Aus. Vorbei. Vorüber - die Badesaison. Wo noch vor zwei Wochen ein Platschen, Spritzen, Rufen und Toben war, herrscht nun Grabesstille. Der Herbstwind allein bringt die glatte Wasseroberfläche jetzt zum Kräuseln, und ab und an zieht ein einsamer Schwimmer mit eiserner Disziplin die letzten Bahnen. Wer würde sie nicht vermissen, egal ob aus diesem Sommer oder aus Kindheitstagen, die unnachahmliche Geräuschkulisse eines Freibads im August: die spitzen Schreie erschreckten Vergnügens in den verschiedensten Berührungen mit dem Wasser, das Herausforderungsgebrüll der Jugendlichen, die sich zu tapferen Sprüngen anregen und schließlich das nie verstummende Kindergeplärre, das zu trösten die geballte Kraft aller Freibad-Mütter nicht
ht ausreicht. Dazu als »running gag« der scheppernde Lautsprecher: »Die fünfjährige Christine sucht ihre Mutter und kann beim Bademeister abgeholt werden.« So wird man unversehens Zeuge manchen Kindheitstraumas. »Ein etwa dreijähriger Junge in roter Badehose mit schwarzem Haar und braunen Augen vermisst seine Eltern«, gefolgt vom markerschütternden Aufheulen des verlorenen Sohns - wer hat da nicht schon mal tadelnd von der Lektüre auf ins bevölkerte Rund der Liegewiese geblickt, um sozusagen prophylaktisch all die Rabeneltern zu bestrafen, die derart ihren Nachwuchs übersehen.Doch nun scheint die Leere am Bademeisterturm zu garantieren, dass alle Kinder in ihre Obhut zurück gefunden haben und so übersichtlich stellen sich die leeren Stein- und Rasenflächen dar, dass kein Verirren mehr vorstellbar ist. Vereinzelt bedeckt ein Handtuch noch einen Kleiderberg, letzte Spuren eines entvölkerten Kosmos, einer in ihrem Artenreichtum untergegangenen Welt. Denn das Freibad ist eines der letzten städtischen Biotope, in denen der Konsum nur eine Nebentätigkeit unter vielen darstellt. Im Gegensatz zu den künstlichen Welten der Shoppingmalls geht es in der artifiziellen Umgebung der Freibäder noch ganz um das pure Sein, möglichst bei schönem Wetter.Deshalb wird hier auch jeder nach dem, was er tut, beurteilt. Meist Anfang Mai nämlich teilt sich die Menschheit auf in See-Schwimmer und Freibadschwimmer. Gleichgültig, ob tatsächlich geschwommen wird oder »schwimmen« nur als Umschreibung für einen Besuch am Rande eines Gewässers steht, zwischen diesen Fronten währt der ewige Kampf von Natur versus Künstlichkeit, von Land gegen Stadt, von Spontaneität gegen Freizeitgestaltung.Wer auf Seen schwört, wähnt sich überlegen, schimpft auf das gechlorte Wasser, die Ödnis des Bahnenzählens und die Repression durch Bademeister. Wer aufs Freibad schwört, steht der Zivilisation weniger skeptisch gegenüber und führt doch vor allem Entschuldigungen an: dass einem das Wasser vieler Seen zu verschmutzt erscheint, die Wege dorthin zu lang seien und man das leidige Bedürfnis habe, nach dem Bade zu duschen. Nur die ganz Selbstbewussten bestehen darauf, erst im 50-Meter-Becken sportlich schwimmen zu können, womit sie den Natur-Kultur-Diskurs klar für sich entscheiden.Im Freibad selbst nimmt die Typisierung kein Ende, ganz im Gegenteil, letztlich lässt sich hier jedes Individuum auf einen Typ zurückführen: Es gibt die, die nur morgens schwimmen, und die, die nur abends schwimmen (Menschen, die mittags schwimmen, werden selten ernst genommen). Es gibt die Schwimmbrillen- und die Bademützenfraktion und die Schnittmenge dieser Gruppierungen. Es gibt wenige, die es wagen, für eine Bahnlänge den legendären »Schmetterlingsstil« zu demonstrieren und sämtliche Bruststil-Schwimmer der Umgebung in den Wellen zu ertränken, darunter die Damen, die mit gereckten Köpfen so mühelos plaudernd durchs Wasser gleiten, dass an ihnen kein Vorbeikommen wäre. Es gibt solche, die darauf schwören, nur im Schatten zu liegen und solche, die nie genug Sonne auf ihrer Haut haben können; Menschen im Barfußbereich und Menschen, die nur Auf-dem-Rasen-Liegen für das Wahre halten; Nacktsonner und in allen Bademoden der vergangen Jahrzehnte Gekleidete. Es gibt die, die Essen vor dem Schwimmen für schädlich halten und die, deren höchstes Glück im Verspeisen von Wassereis besteht. Keine Handlung ist hier denkbar, die nicht klassifizierungsfähig wäre. Und potentiell tut hier ein jeder das gleiche jeden Tag.Nirgendwo sonst sieht man eine so große Menge an Menschen so starr an ihren Gewohnheiten festhalten. So kann ein Besuch im Freibad einen über den Lauf der Zeit hinwegtrösten: Hier ist im Grunde jeden Sommer alles noch so, wie vor zehn, wie vor dreißig Jahren. An keinem Ort kann man so sicher sein, auch nächstes Jahr wieder die gleichen Leute in den gleichen Ecken zu treffen, in der schützenden Anonymität der Typologisierung. Doch nun sind sie erst mal alle fort.