Chronik der deutschen Teilung: Bleierne Jahre in Ost und West

Literatur „Verlassene Werke“: Einmal mehr erweist sich der Schriftsteller Bernd Wagner als literarischer Chronist und kritischer Zeitzeuge der deutschen Teilung
Ausgabe 33/2022

Die Zeitspanne, die die deutsche Einheit mittlerweile zurückliegt, ist die einer Generation. Während es Nachgeborene meist drängt, über das dürftige Schulwissen hinaus noch mehr von den historischen Fakten zu erfahren, sind Zeitzeugen daran interessiert, der allgegenwärtigen äußeren Chronologie eine innere entgegenzusetzen. Das versucht der 1948 im sächsischen Wurzen geborene Schriftsteller Bernd Wagner in einer Art innerem Tagebuch mit dem Titel Verlassene Werke.

In der Zeitspanne 1976 – 1989, aus der die Texte in seiner immerhin rund 600 Seiten umfassenden Sammlung stammen, hat er sehr viel notiert. Aber er hat in seinen Aufzeichnungen dem Alltag kaum Einzug gestattet. Die Sprache sollte triumphieren, schreibt er. Und so findet sich darin fast die komplette Palette kleiner literarischer Formen: Anekdote, Witz, Kurzdialog, aufgezeichnete Träume, Porträt und immer wieder Miniaturen und kürzere Erzählungen. Wagner hat das in Heften und auf Zetteln aufbewahrte Material für die Veröffentlichung lediglich mit biografischen Erklärungen versehen, die dem Leser Hintergründe öffnen.

Der Autor führt den Leser durch entscheidende Jahre seines Lebens. Mitte der 1970er war er noch Lehrer für Deutsch und Kunstgeschichte, wollte sich aber schon da ganz auf das Schreiben konzentrieren. Wurde er in dieser Zeit gefragt, hat er – zumindest in der Fremde – die DDR verteidigt. Nicht ohne Selbstironie erzählt er davon, wie er 1976 nach der Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann einiges anstellte, um mit seiner Unterschrift zu protestieren. Für die Liste der Erstunterzeichner war er nicht prominent genug, auch für die zweite nicht. Sein Name findet sich schließlich auf der vierten Liste, wurde aber vom Spiegel genannt und erfüllte somit den Zweck, in die Reihe prominenter Protestierender aufzusteigen. 1984 durfte Wagner dann für eine Woche nach Westberlin reisen.

Er kehrte zurück. Der Aufbau Verlag hatte vor, ein neues Buch mit ihm zu machen, und zusammen mit dem Lyriker Uwe Kolbe gab er in Berlin die Untergrundzeitschrift Mikado heraus. Arbeit, die er nicht im Stich lassen wollte. Als dann im Juli 1984 im Berliner Prenzlauer Berg gegen jeden Protest der Gasometer gesprengt wurde, waren die letzten Fäden, die den Schriftsteller an das Land banden, gerissen. „Diese Gesellschaft hat mir nichts mehr zu bieten: keine Aufgaben, keine produktiven Herausforderungen; ich will sie nur noch verlassen.“

Er brauchte seine Muse

1985 wechselte er vom Ostteil in den Westteil Berlins. Es gehörte zur Absurdität der deutschen Teilung, dass er dazu lediglich eine fünfminütige S-Bahn-Fahrt innerhalb Berlins brauchte. Es war ein anderer Planet. Erste Anlaufpunkte waren Freunde, die diesen Schritt schon früher gegangen waren. Später wurden die anderen, die aus der DDR kamen, sehnlichst erwartet, um frischen Wind in die Zirkel der Ausgereisten zu bringen. Mit dem Maler Hans-Hendrik Grimmling zum Beispiel kamen wieder Streit und Schwadronieren in die vom Einschlafen bedrohte Szene, schreibt Wagner.

Verlassene Werke ist weder eine Sammlung von Dokumenten noch ein Roman. Was Wagner aufschreibt, ist das Echo der in Ost und West ähnlich als „bleierne Zeit“ empfundenen Jahre. Es sind die Verlassenen Werke eines auch sich selbst gegenüber unbestechlichen Chronisten. Er lässt nicht aus, dass er sich einst mit Sauferei und Kindermachen vom stumpfsinnigen Lehrerstudentendasein erlöste. Wagner brauchte seine Muse, damit sie in ihm die ersten Liebesgedichte zum Vorschein brachte. Das ist aus heutiger Sicht vermutlich alles andere als korrekt. Aber „korrekt“ ist keine Kategorie für Literatur.

Es sind für den Schriftsteller Bernd Wagner entscheidende Jahre, aber sie sind es auch, weil sich im Hintergrund das Ende der DDR bis unmittelbar an die deutsche Wiedervereinigung heran vollzieht. Eine Zeit, die in Zeitlupe zu betrachten sich lohnt, weil sich in ihr Ungeheures abspielte: das Ende der deutschen Teilung und eine Zeitenwende in Millionen von ostdeutschen Lebensläufen.

Verlassene Werke Bernd Wagner Faber & Faber 2022, 605 S., 26 €

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