Verlust eines Heldenbildes

Single Ohne Anfang und Ende

Renée Zucker hat ihr drittes Buch geschrieben. Nach Berlin ist anderswo und Glück kann manchmal ganz schön nerven nun Ein Tag wie Totolotto - "Geschichten voller Witz und Melancholie, ohne Anfang und Ende, aber mitten aus dem Leben." So wirbt der Klappentext und an dieser Stelle haben die Worte Schwung. Nach dem Lesen stellt sich plötzlich die Frage: Warum hat das Buch zehn Geschichten mit wiederkehrenden Personen ohne Anfang und Ende? Damit bleibt alles irgendwie austauschbar. Keine der handelnden Personen nimmt eine Entwicklung, alle tauchen episodenhaft auf und verlassen die Handlung ohne erkennbare Spuren zu hinterlassen. Wären zehn abgeschlossene Geschichten, stringent erzählt, vielleicht die bessere Alternative zu einem Buch mit derart grobmaschig gestrickten Fäden?

Den einzelnen Kapiteln liegt eine Trennungsgeschichte zu Grunde: Herr Wenig, der Lebenspartner der Protagonistin, beschließt im strahlenden Sonnenschein eines Apriltages Anfang der achtziger Jahre, nach Frankfurt zu gehen, um sich endlich zu verwirklichen. Die Ich-Erzählerin steht nun also allein da. Fast. Den gemeinsamen Sohn hat Herr Wenig gleich mitabgelegt. Ihre Mutter fragt aufmunternd: "Du wirst doch wohl nicht heulen? Wegen einem Mann - und schon gar nicht wegen diesem." Dann sagt sie noch "Jetzt wasch dir´s Gesicht und geh mal vor die Tür!" So beginnt die Erzählerin ihr Leben neu zu organisieren. Der Sohn bleibt in den Geschichten eine Randerscheinung, mehr erfährt die Leserin über eher flüchtige Bekanntschaften mit Männern, die alle irgendwie seltsame Wesen zu sein scheinen; eine Vorstellung übrigens, die sich im Laufe der Lektüre unbewusst auf die gesamte Gattung auszudehnen droht.

Da taucht Freund Harri auf, der für jede Situation den passenden Ratgeber zur Hand hat, auf einer Party erscheint Peter, der wie ein Morgen im Wald riecht und dessen Lügengeschichten später auf den häuslichen Tisch gepackt werden, mit Konni entdeckt sie Rom und seinen Hang zur Egozentrik, Patrice aus Frankreich interessiert sich hauptsächlich für Delphine, zu Hause in Paris warten Frau und Kinder, Bob aus New York liebt nächtliche Waldspaziergänge und hat etwas Geheimnisumwobenes. Immer wieder schwappt der schon ältere Herr Schultz in die einzelnen Kapitel, repariert Fahrräder und versucht, Ordnung in das Lebenschaos der Umhersuchenden zu bringen. Erst spät erkennt die Erzählerin, dass "immer nur Muttern zu ölen im Ernstfall auch nichts nützt" und ist tief im Innersten fassungslos über den Verlust eines Heldenbildes. Manchmal sucht sie den Kontakt zu Freundinnen aus Jugendtagen. Erzählt wird zum Beispiel von Annemie, die sich Baghwan-Osho zuliebe Shanta nennen lässt und mit der sie zum Satsang geht, um einen Erleuchteten zu treffen ...

Mich hat die Lektüre unerleuchtet, ja sogar unbefriedigt entlassen, obwohl die Autorin eine wunderbare Schreiberin ist und ich durchaus einen Nerv für Selbstironie besitze. Doch wahrscheinlich nutzt sich der pointierte Stil, der eine Kolumne brillant trägt, im Laufe der aneinander gereihten Erzählungen allmählich ab. Es bleibt so ein vages Unbehagen von Oberfläche und Klischee.

Aber zum Glück sind da auch andere Momente; Geschichten mit Tiefgang, Personen, über die ich noch mehr hätte erfahren wollen. Zum Beispiel im Kapitel "Meines Vaters Frauen" über die Töchter der dritten Frau. Hier beobachtet und beschreibt Renée Zucker sehr genau, sehr einfühlsam, aber dennoch mit Humor. Die Leserin schließt die Bekanntschaft unverwechselbarer Personen, keiner austauschbaren Symbole, die gleich für eine ganze Generation herhalten müssen. Oder der Asylbewerber Mohamed, der Bad und Küche fliest und seinem eigenen Musikgeschmack, seinen eigenen Essgewohnheiten treu bleibt. Mohamed erzählt von der Heiligen Nacht, Lailat al qadr. "Der Himmel ist ganz hell, und keiner sieht das außer dir. Auf deinen Schultern sitzen zwei Engel und fragen, was du gerne möchtest. Gold, Diamanten oder ein Auto ... Es ist ... es ist ganz toll - ein Tag wie Totolotto." Fazit: Kein Volltreffer, aber eine kurzweilige Bahnlektüre hat auch ihren Wert.

Renée Zucker: Ein Tag wie Totolotto. Kiepenheuer Witsch, Köln 2003, 187 S.,
7,90 EUR


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