Vermessen

A–Z Der 5. März ist der „Tag der Vermessung und Geoinformation“. Einst nahmen wir dafür Elle und Fuß, heute kartografieren Superrechner sogar das Gehirn. Unser Lexikon
Ausgabe 10/2020

A

Atlas Den Grundstein für Erdkunde-Wälzer in der Schule legte Gerhard Mercator. Er veröffentlichte für die Seefahrt den ersten Atlas der Welt. Dieser eignete sich für die Navigation auf den Meeren, da hierfür die kugelförmige Globus-Darstellung winkeltreu auf die zweidimensionale Karte übertragen wurde. So konnten Seefahrende auf dem Atlas ihren exakten Kurswinkel zum Ziel berechnen. Der Nachteil dieser Darstellung: Sie ist nicht flächentreu. Äquatorferne Regionen erscheinen überdimensional groß. Mercator wusste um die Ungenauigkeit. Dennoch spricht man von der Mercator-Verzerrung.

In gängigen Atlanten entsteht zum Beispiel der Eindruck, Grönland sei nur unwesentlich kleiner als Afrika. Das zu glauben, wäre Vermessenheit. Tatsächlich ist Afrika 14-mal so groß. Kartografische Alternativen gibt es längst, doch auch sie kommen nicht ohne Verzerrungen aus. Laut Gauß (Literatur) ist es unmöglich, eine Kugel zweidimensional und zugleich flächen-, längen- und winkeltreu abzubilden. Um die Mercator-Verzerrung besser nachzuvollziehen, sei die Seite thetruesize.com empfohlen. Ben Mendelson

F

Fitness Ob ich mit ihm eine Fitnesspartnerschaft eingehen wolle, fragt mich Freund Mangold. Ich blicke ihn irritiert an, weil er bisher nicht für die zwischenmännliche Annäherung bekannt war. Er erklärt es mir, als wäre ich ein sportlicher Neandertaler: Unsere beiden Fitnessapps (Habe ich die? Ja!) ließen sich verbinden und dann könnten wir unsere Ergebnisse comparen. Muss ich?

Das Leben ist zu einer Ingenieurleistung geworden, das Neoliberale leuchtet in uns stärker als in den meisten FDPlern. Die Menschen rennen um ihre Selbstbestimmung und legen sich in allerbeste Leistungsketten: messen, vergleichen, Performanz steigern. Dem Fitnesswahn wissenschaftlich auf den Grund geht Prof. Jürgen Martschukat in seinem aktuellen Buch Das Zeitalter der Fitness (S. Fischer). Mangold verfolgt natürlich ein extrakorporales Vermessungsziel: die angebetete Laura, mit der er gerne nicht nur joggen würde. Am Ende aller Vermessung geht es dann doch nur um eins: ums Würstchen (Phallus). Jan C. Behmann

G

Gehirn Auf www.brainflight.org, entwickelt von Gamedesignern und dem Helmstaedter Department am Max-Planck-Institut für Hirnforschung, können Bürger per Computerspiel oder App als Pilot durch die Neurokanäle von Mäuse- und Menschenhirnen fliegen. Die Mission: die Vermessung des menschlichen Hirns. „Connectomics“ heißt das. Was passiert etwa bei der Wiederkennung von Buchstaben im Hirn, jetzt, beim Lesen?

Um das herauszufinden, wird Großhirnrindengewebe von einem halben Quadratmillimeter analysiert, die Daten der einzelnen Bilder werden zusammengezogen. Ein nur von Großrechnern zu bearbeitendes Datenpaket ergibt ein 3-D-Bild von Verschaltungen in einem sandkorngroßen Hirngewebekubus. Da Menschen in der Bildanalyse schneller und besser als Computer sind, braucht es nun viele Laien. Helena Neumann

K

Konfektionsgrößen erinnern besonders deutlich daran, dass das Leben ein Anpassungsprozess ist. Von ihnen lebt auch ein großer Teil der Ratgeberliteratur. Das gilt für Vor- und Nachwendezeiten. Zwischen m76 und m88 wurde ich zu DDR-Zeiten vermessen. Zwischen 40 – 46 vorwärts und wieder rückwärts verlief meine Entwicklung nach 1990 bis in die Gegenwart. Heute geht es zwischen M und XL rauf und runter. S und XS (small and very small) sind für mich utopische Maße. Die „ups“ und „downs“ der Gewichtskontrolle lassen sich sowohl in Kilo als auch in Konfektionsgröße ausdrücken.

Was das „Darunter“, die Dessous (neudeutsch: Lingerie), betrifft, wurden die BH-Körbchengrößen zu DDR-Zeiten in Zahlen ausgedrückt. Heute sind es Buchstaben, von denen D die ausladendste Variante ist. Die dazugehörige Zahl drückt den Körperumfang direkt unter der Brust aus. Nostalgie übrigens kann sich auch in Konfektionsgrößen artikulieren. Aufschrei: „Ach, wie toll war das, als ich noch in eine 38 – 40 passte.“ Wo ist die Zeit nur hin? Trost: Die „Seelengröße“ ist nicht messbar. Magda Geisler

L

Literatur Es war das literarische Ereignis des Jahres 2005: Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt, jene Doppelbiografie des Forschungsreisenden Alexander von Humboldt und des Mathematikers Carl Friedrich Gauß, die sich 1828 in Berlin anlässlich des Deutschen Naturforscherkongresses getroffen haben. Das Buch erzählt in zwei getrennten Erzählsträngen von den beiden Wissenschaftlern, die sich, so unterschiedlich sie sind, doch in einem gleichen: nämlich in ihrem unbedingten Willen zum Faktischen – zum Vermessen der Welt.

Viel wurde gelobt an diesem Roman: die Erzählhaltung, die Akribie, der Erfindungsreichtum, die knappe Sprache, die Souveränität, mit der erzählt wird. Die Vermessung der Welt hat auch humorvolle, ironische Momente: Der 1975 in München geborene Autor, das liest man an vielen Stellen, findet seine beiden Protagonisten ziemlich sonderbar. Ein besonderes Lob fand Martin Lüdke in der Frankfurter Rundschau. Er attestierte dem Autor, er hätte das „Alterswerk eines jungen Schriftstellers“ verfasst. Das Buch war ein Welterfolg: Die New York Times führte den Roman im April 2007 an zweiter Stelle der meistverkauften Bücher des Jahres 2006. Die weltweite Auflage liegt heute bei etwa sechs Millionen. Marc Peschke

M

Meter Mit dem Meter, einem Kind der Französischen Revolution, das sich behauptete (anders als der Revolutionskalender), stand erstmals eine Maßeinheit zur Verfügung, die sich vom Körper emanzipierte (Sapiens) und die Dimensionen des Heimatplaneten zur Grundlage nahm. Wurden vorher in Füßen, Ellen, Schritten oder Wegstunden Distanzen mehr geschätzt als bestimmt – noch dazu mit lokalen Schwankungen, der rheinländische Fuß zum Beispiel war nicht gleich lang wie der preußische –, einigte man sich mit dem Meter gegen anfänglichen Widerstand auf eine feste Größe, die dem zehnmillionsten Teil der Distanz vom Äquator zum Nordpol entsprach.

Damit war der Weg frei für grenzüberschreitende Großbauwerke wie die Begradigung des Rheins, die den mäandernden Wildstrom in einen Wasserweg verwandelte. Erst am 20. Mai 1875 unterzeichneten 17 Staaten, „vom Wunsche geleitet, die internationale Einigung und die Vervollkommnung des metrischen Systems zu sichern“, die Meterkonvention. Damit setzte sich das metrische System, wenigstens auf dem europäischen Festland, durch. Die angelsächsische Welt blieb bei der bereits 1593 statuierten Meile, die sich aus 8 Furlongs, 320 Poles oder 5280 Fuß zusammensetzt und damit exakt 1609,344 Metern entspricht. Marc Ottiker

P

Phallus „Das sind nicht 20 Zentimeter“: Ausgerechnet „Möhre“ wählte jene Sängerin als Künstlernamen, die vor fast 20 Jahren den blinden Phallusfleck vieler Männer ironisch besang. Es ist ja auch merkwürdig, dass ausgerechnet jene, die meinen, von der Evolution mit einem besonderen räumlichen Sehen beschenkt worden zu sein, sich beim Schätzen der eigenen Penislänge so vertun (Vermessenheit). Warum nehmen sie nicht einfach Lineal oder Maßband zur Hand? Zudem verkennen einige ihr schrumpeliges Gemächt auch noch derart, dass sie es Frauen gern in Form von Dickpics unter die Nase halten. Das wäre eigentlich lustig, wäre es nicht eine belästigende Anmaßung.

Die alte Frage, ob die Länge wirklich entscheidend ist oder auch Technik beim Geschlechtsverkehr zählt, stirbt nicht aus. Das liegt nicht nur daran, dass man ein ganzes Konzept von Männlichkeit an einem Maß festmacht. Auch Sex wird auf ein Mindestmaß an Geschlechtsteil reduziert. Dabei gibt es viele Körperstellen, die Spaß machen. Statt des Fokus auf den Phallus sei ein Höchstmaß an Gelassenheit angeraten. Dann klappt es auch mit der Möhre. Tobias Prüwer

S

Sapiens, homo „Der Mensch ist das Maß der Dinge“: Protagoras’ Satz über den Homo sapiens als Messlatte ist oft missverstanden worden. Er meint nicht, dass der Mensch als Krone der Schöpfung gottgleich über allem schwebt. Dieser sogenannte Homo-Mensura-Satz bedeutet vielmehr, dass der Mensch nicht aus seiner Wahrnehmung herauskommt. Die Dinge können wir nur so ansehen, wie sie uns begegnen. Kurzum: Wir müssen die Welt mit der menschlichen Auffassungsgabe, mit unseren Mitteln der Erkenntnis erfassen. Das macht auch ein Blick auf die Geschichte der Weltvermessung erkennbar (Literatur).

Der Mensch nahm, was ihm buchstäblich zur Hand war. Die deutsche Elle – ein am Unterarm orientiertes Maß – ist ein Beispiel dafür. Das angloamerikanische Maßsystem operiert bis heute mit jenen Einheiten, die sich vom menschlichen Körper ableiten. Da haben wir den Inch, der „daumenbreit“ 2,54 cm beträgt. Der Foot (30,48 cm) ergibt verdreifacht den Yard (91,44 cm), der dem Schritt entspricht. Hier sind Gliedmaßen noch das Maß der Dinge, während andernorts das Dezimalsystem Einzug hielt (Meter). Das ist vielleicht nicht so bildlich, und anthropomorphisch schon gar nicht. Aber es lässt sich leichter mit ihm umrechnen. Dank Brexit müssen uns Inch und Foot aber nicht mehr groß scheren. Tobias Prüwer

V

Vermessenheit Irrtümer bezüglich des eigenen Vermögens – physisch, mental, moralisch – gehören zum Menschsein wie der Stuhlgang. Im Grunde torkelt die Spezies (Sapiens) entlang notdürftig zusammengestiefelter Parameter (Meter) durch eine sie permanent überfordernde Realität. Das wäre amüsant, wenn es nicht so grauenvolle Auswüchse wie etwa den Rassismus hervorbringen würde. Zu glauben, die eigene Rasse sei einer anderen überlegen, ist eine typisch menschliche Vermessenheit.

Ganzen Volksgruppen sinistre Welteroberungsmachenschaften nachzusagen, von denen man ein Opfer sein will, ist Vermessenheit, die in der extremsten Ausprägung dem Völkermord den Weg ebnet. Immer geht es dabei um falsche Einschätzungen der eignen Lage und einen unumstößlichen Glauben an das Falsche. Warum ist es so leicht, jemanden etwas glauben zu machen, und so schwer, ihn von einem Glauben wieder abzubringen? Dank dem Internet, der Vermessenheitsmaschine schlechthin, glauben einige wieder daran, dass die Erde eine Scheibe ist. Willkommen im Mittelalter. Marc Ottiker

Z

Zeit Zäh wie geschmolzener Käse ziehen sich die Stunden in jenen schlaflosen Nächten, in denen wir uns von links nach rechts wälzen. Sehnsüchtig warten wir auf das Klingeln des Weckers und schlafen, wider jegliche Absicht, eine gefühlte Sekunde vorher tatsächlich ein. Zeit scheint alles andere als regelmäßig und messbar. Tatsächlich geht unsere Vorstellung von Zeit als Kontinuum mit der Erfindung der Uhr einher. Vor dieser sklaventreibenden Erfindung waren nicht wir von ihr, sondern sie von uns abhängig: Die Länge einer Aktivität oder eines Phänomens bestimmten das Zeitmaß. Wider jegliches Zeitgefühl führten Entwicklungen wie das mönchische Leben im Mittelalter und die Einführung bezahlter Arbeitszeit zum kontinuierlichen Ticken der Uhr.Valentina Gianera

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