Das ist ein Bild wie aus einem Reiseprospekt für die Nachsaison: Die Sonne strahlt verhalten auf das Delta der Neretva am Adriatischen Meer. Ein üppiger Garten Eden, der sich um diese Jahreszeit aller Herbstfarben versichert. Neben dem Fluss führt eine Straße ins Landesinnere, klammert sich an das noch vom Sommer gebackene, rissige Land, streift Orte, die voll sind von geborstenem Gemäuer und ansonsten leer, und trifft bald auf Metkovic, die Grenzstadt zwischen Kroatien und Bosnien-Herzegowina.
Vor dem Krieg galt diese Route entlang der Neretva als touristische Hauptschlagader Jugoslawiens. Wer sich für die Tour entschied, wusste in der Regel, es würde sich lohnen, in Pocitelj Station zu machen. Das steinerne Dorf aus der Türkenzeit empfing mit seinen
mit seinen Moscheen und der Wehrburg auf dem Fels als ein offenes, lebendiges Museum. Ein Ort, der den Betrachter behutsam, aber doch nachdrücklich mit einer Ahnung von Vergänglichkeit versorgte. Heute allerdings bleiben nur unerschütterliche Gewissheiten: die Bewohner sind getötet, die Überlebenden vertrieben, die Gebäude verwüstet, verbrannt, verfallen - nicht das Leben, allein die Erinnerung bleibt übermächtig.Einer der inzwischen zurückgekehrten Bewohner aus Pocitelj erzählt von jenem Ort, den es kaum noch gibt, er erzählt auf Deutsch. Einige Vokabeln habe er schon vor dem Krieg gekannt, wegen der vielen deutschen Touristen, aber die Sprache wirklich zu lernen, das sei ihm erst während seines Asyls in Deutschland gelungen. "Sollten die Kroaten gedacht haben, sie könnten unseren Glauben zerstören, wenn sie unsere Moscheen sprengen? Aber wir haben keinen Glauben nur für den Tag oder nur für die Straße." Er fasst sich an seine weißbeharrte Brust. "Hier tragen wir ihn, unseren Glauben." Religiöser Frauengesang holt ihn ein, ertönt vielstimmig aus einem nahen Hof, das Freitagsgebet für die Toten. "Seit der Krieg vorbei ist, beten wir Muslime oft. Doch am Freitag, das ist das wichtigste Gebet für alle."Von Pocitelj geht es weiter zur Buna-Quelle. Am Straßenrand schieben sich wieder Ruinendörfer vorbei, unterbrochen gelegentlich von vereinzelten Neubauten, die billig und hässlich und eher zufällig herumstehen. Dazwischen leere Restaurants, Cafés, Bistros, verschlissene Inschriften, vernagelte Fenster, eingeschlagene Türen. An der Felswand, aus der die berühmte Quelle sprudelt, gibt es in diesen Herbsttagen nur wenig Besucher. Für eine Mark Trinkgeld bedankt sich der Kellner im angrenzenden Wirtshaus gleich zweifach.Und dann naht auch schon Mostar, die Stadt mit der weltberühmten alten Brücke, die 1993 gesprengt wurde. Früher galt die Koexistenz von Kirchen und Moscheen als Beispiel der Toleranz, die verschiedene Kulturen und Religionen füreinander aufzubringen vermochten, heute sieht das Ganze eher nach gegenseitiger Belagerung aus. Eine tickende Zeitbombe, die jederzeit wieder scharf gemacht werden kann.Die Angestellte an der Hotelrezeption erzählt mir, sie sei damals mit ihrer Familie bis nach Norwegen, in die Stadt Bergen, geflohen. Die Kinder lebten jetzt noch dort, wollten nicht, könnten nicht zurück, denn in Mostar würden sie nirgendwo Arbeit finden. "300 Tage regnet es in Norwegen - im Jahr 300 Tage" wiederholt sie ungläubig. "Wenn das Hotel hier in Konkurs geht, dann sind mir 300 Regentage egal. Dann versuche ich, wieder nach Norwegen zu gehen." Sie will wissen, woher ich käme. "Aus Berlin können Sie nicht sein, denn Berlin, das ist jetzt hier, in Mostar. Nehmen Sie den Boulevard um die Ecke, dort finden Sie gleich die Mauer. Alles ist geteilt - die Stadt, die Familie, unser Leben - nur unser Schicksal, das nicht."Abend stöckeln wie auf einer falsch dekorierten Bühne vier junge Frauen auf hohen Absätzen über eine löchrige Straße mit zersiebten Gebäuden links und rechts. Untergehakt, in eleganten Röckchen steuern sie den mondänsten Nachtclub von Mostar an, der sich in einem Haus befindet, das von der zweiten Etage aufwärts als schwer kriegsversehrt gelten muss - ein Torso, der ab Stockwerk zwei mit seinen bloßen Stahlträgern in den Nachthimmel greift. Manchmal scheint es, als wollten die Menschen in dieser Stadt mit viel Make up auch das Nichts ringsherum zurecht schminken und eine Zukunft beschwören, bei der es sich lohnt, vergeblich darauf zu warten, dass sie kommt. In den Souvenirshops findet man Stadtführer in Englisch und Deutsch, in Japanisch und Holländisch, in Italienisch und Französisch, alle im Frühjahr 2001 gedruckt für die Saison 2001. Hochglanzbilder zeigen Brücken, die sich einst über die Neretva spannten und von denen nur noch Trümmer blieben. Kein Bild irgendeines Reiseführers zitiert den Krieg. Nur die Postkarten im Angebot kopieren Filmbilder der Jahre 92 und 93, doch fehlt niemals in roter Diagonalschrift der Aufdruck "Don´t Forget". Keine kollektive Amnesie gegen das individuelle Gedächtnis - doch wirkt die Beschwörung des Krieges eine Spur zu kokett und extrovertiert, um glaubhaft zu sein. Viele der wieder hergerichteten Moscheen sind mit billigem Material aufgebaut, dass es zweifelhaft erscheint, ob sie je wieder Touristenströme anziehen? Sie sehen schon von Weitem wie Attrappen aus. Die Gläubigen allerdings scheint das weniger zu stören. Sie gehen ein und aus - noch ein Auftritt auf einer falsch dekorierten Bühne.In den Restaurants der Stadt werden dem zahlungskräftigen Klienten Menüs in solchen Portionen serviert, dass noch streunende Katzen davon bestens versorgt werden könnten. Einheimische Gäste allerdings haben nur Gedecke mit Kaffee und Wasser auf ihren Tischen. Schon für ein kleines Trinkgeld folgt der Kellner zum Ausgang und verbeugt sich sogar - Westeuropäer dürfen gönnerhaft den Kriegsgewinnler geben. Nachkriegstourismus hat seinen Reiz und mehr als nur einen Hauch von AusverkaufNoch in den siebziger Jahren war der Ort Medugarje ein verschlafenes Nest, an dem die Touristen vorbei fuhren Doch dann, 1981, wollten dort sechs Gläubige die Jungfrau Maria erblickt haben. Das ließ in der Katholischen Kirche zunächst einen Streit ausbrechen, ungeachtet dessen verwandelte sich Medugorje in einen betriebsamen Wallfahrtsort und ist es bis heute geblieben. Hier findet man einen der wenigen Orte Bosniens, in denen Hotels und Restaurants auch jetzt noch gut besucht sind. Auf den Parkplätzen Autokennzeichen aus Italien und Deutschland, Frankreich, Belgien und Österreich. Katholiken von überall stauen sich in diversen Kitschläden, die mit Ketten und Hologramme, Anhängern und Ölbildern die üblichen religiösen Spezereien feilbieten, dazu Videos und Kassetten mit der Seherstory - der Soap-Opera-Version des Katholizismus in Medugarje. Nachkriegsrealität auch das, früher strömten Touristen ins ehrwürdige Mostar, heute zieht es sie in diesen Nippes- und Wallfahrtsort.In der Umgebung fallen Karstfelsen jäh ins Tal, an einer Stelle schießen Wassermassen hinterher, aufgefangen von einem winzigen Gebirgssee, der von Bars und Gasthäusern umrundet ist. Ich komme mit einer schlanken, schwarzhaarigen Frau ins Gespräch, Brankica erzählt gern, dass sie zu Besuch bei ihren Verwandten sei. Schon Jahre vor dem Krieg habe sie sich entschieden, nach Deutschland zu gehen. Die Frauen hätten weder in Bosnien noch in Kroatien etwas zu sagen - das sei schon immer so gewesen. Ihre drei Schwägerinnen müssten sieben lange Tage in der Woche auf ihren Bauernhöfen schuften. Sie aber könne es sich leisten, in Designerkleidung anzureisen und ihren Brüdern ein altes Auto aus Deutschland zu schenken. Offen und ungerührt erzählt sie, die Geschwister hätten während des Krieges einige Moslems vertrieben. Ich erwähne die von den Kämpfen geschleiften Dörfer zwischen Pocitelj und Buna. Sie weiß es nicht genau - ja, vielleicht waren die Brüder dabei, als freiwillige Milizionäre, das sei für Kroaten seinerzeit eine Frage von Pflicht und Ehre gewesen. Während sie sich liebevoll um ihren neun Monate alten Sohn kümmert, erzählt sie ungerührt weiter: Auch hier, an den Kravica-Wasserfällen, habe es Gefechte gegeben. "Wer sucht, kann in dieser Gegend sicher noch Leichen, Munition und verlassene Stellungen finden", ist sie überzeugt. Wenn man zurück blicke, habe der Krieg eben nichts gebracht. Ihre drei Brüder lebten jetzt von der Landwirtschaft, der Jagd und den Alimenten der Schwester aus Deutschland. "Da geht es ihnen nicht viel besser als dem gesamten Land. Was sie an Bargeld haben, stammt von der Rente meiner alten Mutter, so ist das. Eine Zukunft gibt es erst wieder für die Kinder - für meine Brüder nicht mehr. Bald laufen ihre alten kroatischen Pässe ab. In den neuen wird stehen, sie seien Bosnier. Und das ausgerechnet hier, wo einmal das Zentrum der Ustascha war ..." (*)Auf meine Frage, was sie von der "Ustascha" halte, antwortet sie sofort, das seien die konsequentesten Feinde des Kommunismus gewesen, der schließlich alle Kroaten unterdrückt habe. "Wie war das?", möchte ich wissen. Brankica fasst an das goldene Kreuz, das in ihrem Ausschnitt funkelt. "So etwas war während meiner Schulzeit verboten, dafür konnte man nach Hause geschickt werden. Die Moslems aber durften ihr Zeug tragen." Es fällt nicht schwer, Kroaten zu finden, die stolz bekennen, ihre Vorfahren seien "Ustascha-Leute" gewesen. Kroatisches Geld wird ja auch wieder in Kuna gezählt, wie zu Zeiten der Ustascha-Republik ab 1941.Die drei Brüder würden als Kroaten bald in Bosnien wie Fremde im eigenen Land leben, meint Brankica noch, ohne Aussicht auf Arbeit, während wenige Kilometer entfernt der etwas wohlhabendere Teil Kroatiens beginne, dem sie sich durch den Krieg eigentlich anschließen wollten. Lassen der Hass und die Hoffnungslosigkeit ihrer Brüder auf eine nächste blutige Gelegenheit hoffen? Brankica schüttelt den Kopf - "sie sind ausgebrannt."Dann ist nur noch das Gurgeln des Wasserfalls zu hören.(*) Die Ustascha - wörtlich: Der Aufständische - war eine 1929 gegründete Bewegung gegen Nationalitätenausgleich mit dem Ziel, ein unabhängiges Kroatien zu erzwingen. 1941 rief die Ustascha, gestützt vom faschistischen Deutschland, ein unabhängiges Kroatien aus und errichtete ein Terrorregime.
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