Vernichtet

Filmerbe Die Filmvernichtung ist im Gange: Eine kurze Geschichte der Digitalisierung und ihrer Folgen fürs Kino-Archiv
Ausgabe 39/2016

Als das Jahr der Wende gilt 2012: Die Digitalisierung der Kinos war entsprechend dem weltweiten, 2009 von Avatar und 3-D vorangetriebenen Trend auch in Deutschland größtenteils vollzogen. Vielerorts wurden Filmprojektoren entsorgt, im Jahr 2013 verabschiedeten sich nach und nach alle Verleiher vom bisherigen Projektionsstandard und stellten keine neuen 35-Millimeter-Kopien mehr her. Die großen Filmlager, die bundesweit verteilt die Versandlogistik übernehmen, sahen sich ihrer Arbeitsgrundlage beraubt und mit einem riesigen Altbestand analoger Filmkopien konfrontiert, dessen Erhaltung unter kommerziellen Gesichtspunkten obsolet erschien, zumal viele Verleiher nun auch nicht mehr für die Einlagerung zahlen wollten.

Kein Pflichtexemplar

Die Folge: Eine Filmvernichtung im großen Stil ist seither im Gange. In unüberschaubarer Zahl und oft willkürlich werden Kopien dem Schredder überantwortet, egal ob es sich um massenweise vorhandene Exemplare von ohnehin archivierten Filmen oder um Unikate handelt. Während Historiker den Kopf darüber schütteln, dass in den frühen Dekaden des Kinos der bis Anfang der 1950er gebräuchliche Nitratfilm in großen Mengen eingeschmolzen wurde, um den darin enthaltenen Silberanteil zu gewinnen (weshalb der allergrößte Teil der Stummfilmgeschichte als verschollen gilt), kommt es heute in Auktionshäusern absurderweise vor, dass leere Plastikfilmdosen höhere Preise erzielen als die darin enthaltenen 35-Millimeter-Kinofilme.

Warum scheint sich bei vielen Filmen niemand für die Erhaltung zuständig zu fühlen? Betrachtet man den Werdegang eines Films, könnte man von einem Lebenszyklus sprechen (im ökonomischen Jargon: vom Produktlebenszyklus), der von Produktion über Distribution bis zur Archivierung verschiedene Stadien durchläuft, was trotz chronologischer Folgerichtigkeit keineswegs ein selbstverständlicher Prozess ist: Nicht jeder Film, der produziert wurde, gelangt anschließend in die Distribution, und nicht jeder Film, der im Kino ausgewertet wurde, wird danach langfristig und in adäquater Form im Archiv eingelagert.

Bei Schrifterzeugnissen gibt es in Deutschland seit dem 17. Jahrhundert gesetzliche Regelungen und öffentlich-rechtliche Vorschriften über ein Pflichtexemplar (von jeder Veröffentlichung muss ein Exemplar an bestimmte Bibliotheken in der Regel unentgeltlich abgegeben werden). Damit wird eine möglichst vollständige Archivierung der Veröffentlichungen eines Landes als Zeugnis des kulturellen Schaffens sowie seine Zugänglichmachung angestrebt. In manchen Ländern gibt es solche Regelungen auch für Filme. Bei uns wird die Einführung eines Pflichtexemplars von jedem im Kino ausgewerteten Film seit Jahrzehnten diskutiert, bis heute jedoch nicht konkret umgesetzt – der Gedanke von Filmen als umfassend zu sicherndem Kulturgut hat zwar Anhänger gefunden, sich aber noch nicht durchgesetzt.

Verpflichtende Einlagerungen gibt es bislang nur für staatlich geförderte oder ausgezeichnete Filme, für alle anderen Produktionen besteht eine Einlagerungsmöglichkeit auf freiwilliger Basis, von der viele Produzenten und Verleiher aber keinen Gebrauch machen. Fairerweise muss man einräumen, dass Verleiher keinen Kulturauftrag haben und ihnen der Filmerhalt wirtschaftlich lange sinnlos erscheinen musste; bis in die 50er Jahre waren Wiederaufführungen unüblich. Erst dann gründeten sich Festivals, Archive und Kinematheken, womit es, für Retrospektiven, überhaupt eine Nachfrage nach älteren Filmen gab, und erst mit der Verbreitung von Fernsehen und Heimmedien wie Super-8, VHS, DVD, Blu-Ray und Video-on-Demand entwickelte sich ein Markt für Zweitverwertungen.

Entsprechend ihrer Ausrichtung variiert natürlich der Sammlungsschwerpunkt der einzelnen Archive stark. Nationale Filmarchive und Museen sind beispielsweise vorrangig konzentriert auf die Filmhistorie des Landes, in dem sie ansässig sind, während die Archive von großen Studios nur an den Filmen interessiert sind, die sie selbst produziert haben oder an denen sie die Auswertungsrechte besitzen.

Eine wichtige komplementäre Funktion übernehmen daher unabhängige Sammlungen wie die des Münchner Werkstattkinos, die zwar nach den Interessen der Betreiber filtern, durch den Wegfall kommerzieller oder nationaler Ausschlusskriterien allerdings oft eine größere Bandbreite aufweisen. Zugleich scheuen sie sich weniger vor abseitigeren, nicht den etablierten filmkulturellen Wertmaßstäben entsprechenden Filmen, die daher mitunter als letzte Kopien in solchen Sammlungen überlebt haben, während sie bei größeren Institutionen oft durchs Raster fallen.

Kleiner Teil

Erhaltene Kopien sind oft die einzige Chance, Werke der Filmgeschichte im Kino in ihrem ursprünglichen analogen Dreh- und Vorführformat sichtbar und im Sinne eines musealen Ethos als authentisches historisches Artefakt rezipierbar zu halten. Darüber hinaus sind Filmkopien aus der Erstaufführung als Referenz für Digitalisierungen unersetzlich, denn sie lassen im Gegensatz zum Negativ Rückschlüsse auf das ursprüngliche Erscheinungsbild zu. Fehlende historische Referenzen haben zur Folge, dass viele im Werbesprech als „digitale Restaurierungen“ vermarktete Neuerscheinungen mitnichten eine Wiederherstellung des ursprünglichen Werks darstellen, sondern eine Neuinterpretation in Format wie Erscheinungsbild des historischen Materials.

Anstatt sich einzugestehen, dass jede Restaurierung nur eine versuchsweise Annäherung sein kann (im guten Fall in Form eines educated guess), spricht man lieber haltlos davon, die entsprechenden Filme hätten „noch nie so gut ausgesehen“, ohne zu wissen, wie sie einst tatsächlich aussahen. Der wichtigste Grund für den Erhalt von Filmkopien ist allerdings, dass entgegen der ebenso verbreiteten wie falschen Annahme, heutzutage sei ohnehin alles irgendwie gesichert und verfügbar, nur ein minimaler Teil der Filmgeschichte tatsächlich überhaupt erhalten ist.

info

Dieser Beitrag ist eine gekürzte Fassung eines Texts aus dem Booklet des mittels Crowdfunding digitalisierten Films Der Perser und die Schwedin, der bei Forgotten Film Entertainment für 34,99 Euro vorliegt

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