Verräter an seiner Herkunft

Grabrede Paul Nizans Roman "Das Leben des Antoine B." ist eine Abrechnung mit der bürgerlichen Gesellschaft

"Im Jahre 1864 wird ein Kind geboren. Es kommt zur Welt wie alle Menschen, inmitten von Geschrei, Blut, Wasser und großen Schmerzen der Mutter." So beginnt das Leben des Antoine Bloyé - jenes Menschen, dessen Lebensgeschichte Paul Nizans Roman den Titel gibt. 1905 wird Antoine Bloyé der Vater eines Sohnes: Pierre. Im Februar 1905 wird auch Paul Nizan geboren. Er wird nur 35 Jahre alt werden. Er fällt als einer der ersten französischen Soldaten im Mai 1940, nachdem die deutsche Wehrmacht ihre Offensive gegen Frankreich gestartet hat. Er hinterlässt drei Romane, einige bedeutende Essays und - eine riesige Lücke.

Es genügt, seinen Roman Das Leben des Antoine B. aufzuschlagen. Auf Anhieb begegnet einem eine unvergleichbare, unverwechselbare Stimme: Die Stimme eines Romanciers, der es wissen will, und ein Roman, der einen Frontverlauf in die real existierende Wirklichkeit einzeichnet. Dieser - sein erster - Roman erschien 1933. Da war Paul Nizan 28 Jahre alt - ein literarisches Genie, das die Zeremonien des Literarischen gründlich verachtete. Im Alter von 20 Jahren hatte er bereits den Ausbruch versucht und sich nach Aden im Jemen abgesetzt, um sich vor der Zukunft eines Bürgers in Sicherheit zu bringen. Wie es vor ihm den Dichter Arthur Rimbaud auf der Flucht vor seinem Werk in diese Gegend verschlug. Über diesen bald gescheiterten Fluchtversuch wird er seinen ersten großen Essay schreiben: Aden Arabie. Ein Text, der unter anderem davon handelt, dass man der abendländischen Zivilisation, der Sozialisation der bürgerlichen Moderne so schnell nicht entkommt. Und von diesem Zugriff des Gesellschaftlichen auf das Individuum erzählt sein erster Roman Das Leben des Antoine B.

Es ist die Geschichte eines Aufsteigers aus der französischen Provinz, Sohn eines Eisenbahners aus einfachsten Verhältnissen, der bis zu einem gewissen Punkt die Hierarchie des ungeheuer expandierenden Eisenbahnwesens seiner Zeit hochsteigt. Unvermeidlicherweise wird er dabei zum Verräter an seiner eigenen Herkunft - so sieht er sich selbst in gleichermaßen lichten wie dunklen Momenten. Doch er scheint auch ein verratener Verräter zu sein, denn Antoine Bloyé ist nichts als der überaus begabte Vollstrecker einer gesellschaftlichen Dynamik, der nicht weiß, wie ihm geschieht.

Ein Mann, dessen lebensgeschichtliches Gerüst von den steigenden Gehaltszahlungen der Eisenbahngesellschaft konturiert wird. "Alle Lebenssubstanz ist hinter diesen Zahlen verborgen - alles Zusammensein mit anderen Männern, alle Einsamkeit, alle Augenblicke der Begeisterung, der Niedergeschlagenheit, aller Stolz, alle Demütigungen, die Arbeit, die Muße, die Müdigkeit, die Enttäuschung, die Begegnungen mit dem Tod und das, was Antoine wie die Menschen seiner Art gefügig die Pflicht nennt, die Pflicht seine Arbeit zu tun, seiner Frau treu zu sein, seinen Sohn zu erziehen, die Arbeit sich auf ihrer vorgeschriebenen Bahn bewegen zu lassen, die Pflicht, auf Seiten der Vorgesetzten zu stehen, "seine Aufgabe" vor seinem Tod zu vollenden ... Doch welche Aufgabe?"

Als dieser Roman 1974 zum ersten Male auf deutsch erschien, schrieb der Literaturkritiker Hanns Grössel: "Die Jahre, die seit dem Erscheinen vergangen sind, haben diesem großartigen Roman nichts von seiner beklemmenden Eindringlichkeit genommen." Was Grössel vor nunmehr über 30 Jahren schrieb, stimmt heute erst recht. Denn 1974 begegnete dem Roman noch eine Art kollektive Aufmerksamkeit für das Gesellschaftliche. Heute, da sich die Gesellschaft schier totalitär des Individuums bemächtigt, ist die Gesellschaft auf seltsame Weise unsichtbar geworden, unbegreiflich. Das Ideologengeschwätz von der "Selbstverantwortlichkeit des Individuums" wäre bloß lächerlich, hatten die Einzelnen es nicht auf grausame Weise verinnerlicht. Der Arbeitslose, der sein Schicksal einem eisigen Renditedenken verdankt, ist heute geneigt, an sein eigenes Versagen zu glauben. Wahrend Paul Nizan in seinem Roman davon erzählt, wovon Soziologen tapfer schweigen, wie nämlich die Gesellschaft das Individuum bis ins intime Detail erfasst und zum Teil ihres Betriebes macht.

Der glänzende Romancier Paul Nizan scheut sich nicht, in seinem Roman von den sozialen Tatsachen des 19. und 20. Jahrhunderts in rohen Zahlen zu sprechen, um sogleich zu zeigen, wie die Liebe eines Vaters zu seinem Sohn von diesen Zahlen gelenkt wird. Doch wäre es falsch zu glauben, Nizan wollte sich mit seinem Roman bloß als der bessere Soziologe erweisen - der er ist. Nizan schreibt Zeile für Zeile eine Abrechnung mit der sogenannten bürgerlichen Gesellschaft. Manchmal konnte man glauben, es handele sich um ein Pamphlet in subtiler Prosa. Doch ein Pamphlet polemisiert im Namen einer gerechten Sache. Nizan erzählt im Schmerz eines unermesslichen Verlustes: des Lebens, des geraubten Lebens. Antoine B. erzählt die Geschichte eines Menschen, der sich nie begegnen konnte. Es ist eine atemberaubende Grabrede: bewegend und grausam.

Man hat auch versucht, Leben und Werk von Paul Nizan rasch zu Grabe zu tragen. Mit seinen beiden folgenden Romanen Das Trojanische Pferd und Die Verschwörung avancierte er zu einer der eindrucksvollsten jungen Stimmen Frankreichs. Wegen des Hitler-Stalin-Paktes trat er 1939 aus der Kommunistischen Partei aus. Die Kommunisten haben ihn deshalb als Verräter gebrandmarkt. Sein früher Tod 1940 machte ihnen die Sache leicht. Und noch nach dem Krieg hat die KPF die Aufrichtigkeit seiner Motive in Frage gestellt. Erst 1960 rettete Jean-Paul Sartre in einem großartigen Essay das Werk seines Schulfreundes Paul Nizan vor dem Vergessen und nannte die wahren Verräter beim Namen: "Um ihn für seine Klarsichtigkeit zu strafen, trachtete eine Verschwörung von Krüppeln danach, ihn verschwinden zu lassen", schreibt Sartre in seinem Text, der sehr viel über die politischen Abenteuer der französischen Schriftsteller im 20. Jahrhundert verrät.

Paul Nizan: Das Leben des Antoine B. . Roman. Aus dem Französischen übersetzt und für die Neuausgabe durchgesehen von Gerda Scheffel. DuMont, Köln 2005, 259 S., 19,90 EUR


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