BALKAN-ANALYSE Ohne die besondere soziale Chemie und Traditionen der albanischen Gemeinschaften lässt sich der Mazedonien-Konflikt nur schwer begreifen
Hysni Shaqiri trägt seit Neuestem Uniform. Er sei jetzt ein "einfacher Soldat", ließ er die in Skopje erscheinende albanische Tageszeitung Fakti wissen, und er unterwerfe sich ganz den Beschlüssen seines Direktoriums. Die Journalisten, die ihn interviewten, trieb kein besonderes Erstaunen um, wie man es doch hätte erwarten können. Immerhin war der 53-Jährige bis vor ein paar Wochen noch Abgeordneter der Demokratischen Partei der Albaner unter Arben Xhaferri und Mitglied des Parteipräsidiums - bis er eine Erklärung veröffentlichte, mit der er seinen Übertritt zu den "bewaffneten Kräften" bekannt gab und seine Wähler aufforderte, sich ihm anzuschließen.
Umso mehr Aufsehen erregte der Fall Shaqiri auf der mazedonischen Seite. Was
mazedonischen Seite. Was waren das für Leute, die da für angeblich gemäßigte albanische Parteien im Parlament und sogar in der Regierung saßen? Konnte man ihnen trauen? Musste man nicht bei jedem damit rechnen, dass er vielleicht, noch während man mit ihm sprach, heimlich Kontakt zu den Rebellen hielt? Spielten die albanischen Politiker einfach ein abgekartetes Spiel, in dem der eine die zivile, der andere die militärische Rolle hatte?Traditionelles Misstrauen prägt alle Konfliktparteien Dieser Eindruck korrespondiert mit den Vorbehalten westlicher Diplomaten gegenüber den Anführern der albanischen Gemeinschaft in Mazedonien. Was muss man von einem Arben Xhaferri halten, der im Gespräch tiefe Einsichten in die Probleme balkanischer Gesellschaften erkennen lässt, den Extremisten aber nie offen entgegentritt? Seltsam gewunden klingen die Distanzierungen albanischer Politiker gegenüber der Nationalen Befreiungsarmee UÇK. Schon im Kosovo hat es sich als unmöglich erwiesen, scharfe Grenzen zwischen "Extremisten" und "Gemäßigten" zu ziehen. Selbst der vermittelnde und ausgewiesen friedliche Bürgermeister des südserbischen Kleinstädtchens Presevo ging nie so weit, sich von der in seiner Gemeinde agierenden "Befreiungsbewegung" zu distanzieren. Statt dessen erschien er auf der Beerdigung eines "Kämpfers" und ordnete sich willig der Verhandlungsdelegation der Rebellen unter - eines Haufens wilder Dorf-Desperados, von denen manche ständig betrunken waren und andere kaum lesen und schreiben konnten.Misstrauen prägt alle multiethnischen Gemeinschaften auf dem Balkan: Der Nachbar tut freundlich, übt sich aber in fremden Ritualen und spricht eine Sprache, die man nicht versteht. Nicht umsonst ist etwa in Bosnien der Aberglaube so tief verwurzelt. Der Hodscha kann zaubern, alle Serben haben Gewehre im Keller, in den katholischen Klöstern wird über die Aufteilung des Bodens verhandelt. Im Kosovo und in Bosnien wissen die Bauern von "Bergmenschen", fremden Leuten, mit denen man nicht spricht, ganze oder halbe Nomaden, die plötzlich von irgendwoher auftauchen und wieder verschwinden. Im Kosovo heißen die "Bergmenschen" auch offiziell so und wurden in Jugoslawien als "Nation" gehandelt - eine von den Nachbarn zusammengefremdelte Nation. Eine gemeinsame Öffentlichkeit, die sich nach durchschaubaren Regeln entwickelt, gibt es in den multiethnischen Gesellschaften des Balkans nicht. Die Albaner mit ihrer eigentümlichen Sprache und ihrer traditionellen religiösen Indifferenz sind besonders dankbare Objekte des interethnischen Misstrauens.Misstrauen ist aber auch ein Kennzeichen der albanischen Gemeinschaften selber. In den Dörfern halten die großen, bis zu 100 Personen umfassenden Haushalte wenig Kontakt unter einander; Gemeinschaftseinrichtungen sind rar. Die Anwesen umschließen Mauern. Wo sich albanische Öffentlichkeiten entwickelt haben, sind sie von scharfen Polarisierungen und oft absurden Verteufelungen geprägt. In Albanien ist üble Nachrede unter Politikern und Journalisten beinahe die normale Kommunikationsform. Man beschuldigt einander des Verrats, der Konspiration, der Spionage, oft auch ganz unpolitischer Verbrechen und Charaktermängel. Verlassen kann man sich nur auf Verwandte.Molekulare Gesellschaften brauchen keinen Staat Der Südosteuropa-Historiker und Albaner-Experte Karl Kaser sieht den Ursprung dieser eigentümlichen Gesellschaften in der nomadischen Viehzüchtertradition: Man bewegte sich über Jahrhunderte mit seinen Herden in fremder, feindlicher Umgebung. Öffentlichkeit und mit ihr der Austausch von Ideen und Ideologien war weitgehend unbekannt. Kommt ein Feind, sammelt man sich nicht auf dem Dorfplatz und tauscht Strategien aus, sondern jeder zieht sich hinter seine Mauern zurück. Das Massensymbol der Albaner sei das Haus, sagt Dardan Gashi, ein Österreicher kosovo-albanischer Abstammung, der die Gesellschaft seiner Vorfahren einfühlsam analysiert hat.Die vormodernen Traditionen, die überall noch sehr jung und in manchen Gebieten noch Gegenwart sind, prägen auch das Verhältnis zu Staat und Nation. Die "Nation" ist einfach eine erweiterte Familie - eine Abstammungsgemeinschaft; zur Familie verhält sie sich wie die Herde zur Nutztierrasse. Tritt man aus der Familie heraus, so ist die weitere Gemeinschaft nicht das von der Abstammung her heterogene Dorf, sondern der blutsverwandte "Stamm", der inzwischen weitgehend zerfallen und nur in Nordalbanien noch jedem geläufig ist. In der Stadt ist es die Nationalität. Je größer die Bedrohung, desto größer die Einigkeit; alle Gemeinschaften außer der Familie sind Notgemeinschaften, die bei nachlassender Bedrohung sofort zerfallen.Die kosovarische Gesellschaft ist ebenso wie die in Albanien molekular gegliedert: Wie Moleküle existieren die Menschen in festen Verbindungen und schließen sich allenfalls zu flüchtigen Gasen oder Lösungen zusammen. Dass "die Albaner wie Pech und Schwefel zusammenhalten", wie ihre Nachbarvölker gern glauben, ist ein Missverständnis. In Albanien fühlen die Menschen sich nicht als Nation. Nicht einmal haltbare Organisationen bringt die Gesellschaft hervor, geschweige denn Verschwörungen, wie sie den Albanern gern unterstellt werden. Nur unter Bedrohung werden Gefühle der Zusammengehörigkeit aktiviert. Man zögert, dieses Phänomen "Nationalismus" zu nennen. Mit dem Willen zur Staatsbildung hat es nichts zu tun. Staaten braucht die molekulare Gesellschaft keine. Im Gegenteil: "Freiheit" bedeutet Freiheit vom Staat - von jedem im Übrigen, auch von einem albanischen. Was sich "Staat" nannte, war in der kollektiven Erinnerung der Albaner immer nur eine Familie, die andere Familien unterwerfen wollte.Politik als Opportunismus oder symbolische LeerePolitiker haben es in solchen Gesellschaften schwer; weder Ideale noch Programme, weder Ideologien noch territoriale Herkunft verbinden sie mit ihren Wählern. Obwohl die Gesellschaft autoritär strukturiert ist, werden Anführer nicht verehrt, agieren sie doch in einer Sphäre außerhalb des Hauses, die von jedermann beargwöhnt wird. Korruptionsvorwürfe haften jedem Abgeordneten oder Parteifürsten wie selbstverständlich an, ob zu Recht oder zu Unrecht. Nur westliche Diplomaten glauben, Banden und Freischaren würden von Politikern kontrolliert. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Die Banden haben es in der Hand, Bedrohung zu produzieren, die Menschen hinter sich zu versammeln und die Politiker, die ihnen nicht folgen, des "Verrats" zu bezichtigen. Wer wichtig bleiben will, muss ebenso schwanken, wie das Volk es tut. Integrationsfiguren wie Arben Xhaferri oder - im Kosovo - Ibrahim Rugova, sind in Wirklichkeit schwach; sie verdanken ihre Rolle entweder - wie Xhaferri - ihrem Opportunismus oder - wie Rugova - ihrer symbolträchtigen Leere.Über die mazedonische UÇK ist wenig mehr bekannt, als dass sie aus der "Volksbefreiungsbewegung" LKCK hervorgegangen ist, einer studentisch geprägten Emigrantenorganisation, die vor allem in der Schweiz agiert. Ähnlich wie die UÇK im Kosovo hätte sie auch in Mazedonien nicht viel mehr als die Rolle eines Zündfunkens: Sie kann eine extrem manipulierbare Gesellschaft in den Bürgerkrieg treiben, das Feuer regulieren und kontrollieren kann sie nicht. Stark ist sie nur in dem historischen Augenblick, da sie gewaltsam bekämpft wird.
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