Es kommt nicht alle Tage vor, dass Edmund Stoiber aus voller Brust ins gleiche Horn stößt wie Kanzler Schröder oder gar die EU-Kommission. Schließlich gilt "Brüssel" für gewöhnlich als beliebter Sündenbock, der immer wieder Prügel verdient. Doch beim jüngsten Besuch in Warschau pries der bayerische Ministerpräsident vor sichtlich verärgerten Gastgebern den Brüsseler Vorschlag, Arbeitnehmern aus Polen, Tschechien oder Ungarn auch nach dem EU-Beitritt die Grundfreiheit der Freizügigkeit möglicherweise noch sieben Jahre lang zu verweigern. Er konnte nicht anders - schließlich hatte Schröder in weiser Voraussicht kommender Wahlkämpfe schon im Dezember mit der Forderung nach der siebenjährigen Übergangsfrist zu punkten versucht.
Für Günter Verheugen, den Parteifreund auf dem Sessel des EU-Erweiterungskommissars, war es nicht ganz einfach, im Brüsseler Kollegenkreis die Einsicht zu vermitteln, dass derartige europäische Mauern gen Osten stehen bleiben. Es bedurfte nachdrücklicher Überzeugungsarbeit, ehe die 20 Kommissare die Vorlage mehrheitlich abnickten. Die allgemeine Übergangszeit, in der Altmitglieder das Heft in der Hand behalten und Arbeitnehmern aus den neuen Mitgliedstaaten den Zugang zum Arbeitsmarkt verweigern können, wurde auf fünf Jahre befristet. Danach können EU-Staaten wie Deutschland, wenn sie denn ernsthafte Störungen ihrer Arbeitsmärkte geltend machen, die Schotten für weitere zwei Jahre schließen. Leicht übertüncht, ist das die von Stoiber und Schröder gewünschte Siebenjahresfrist.
Trikot des Zweitligisten
Um den Kommissionsvorschlag in den Rang einer Verhandlungsposition zu erheben, bedarf es allerdings noch der einstimmigen Absegnung durch die 15 Mitgliedstaaten. Außer der ÖVP/FPÖ- Regierung in Wien hat Berlin dafür keinen Alliierten. Briten und Spanier haben schon länger wissen lassen, dass sie von Übergangsfristen überhaupt nichts halten. Die Niederlande hoffen gar ausdrücklich auf Arbeitskräfte aus Mittel- und Osteuropa, um Engpässen auf dem eigenen Arbeitsmarkt zu begegnen. Die Deutschen werden also zunächst innerhalb der EU pokern müssen. Der Einsatz ist hoch, denn auch alle anderen haben - meist kostspielige - Sonderwünsche. Spanien will ebenso wie die anderen Netto-Empfänger im Süden nicht auf milliardenschwere Fördermittel verzichten, Frankreich sträubt sich gegen jede Kürzung der Agrarsubventionen. Im Innersten ihrer Seele sind alle überzeugt, dass diejenigen für die Osterweiterung zahlen sollten, deren Ökonomie am meisten vom Exportboom in die Bewerberländer profitiert: Deutschland und Österreich.
Auch die Beitrittskandidaten wollen die Gelegenheit beim Schopfe packen, jetzt eigene Forderungen hochzuschrauben und ihrerseits gewünschte Sonderregelungen zu reklamieren - ob nun beim Umweltschutz, in der Wettbewerbspolitik (Stichwort: polnische "Steuer-Oasen"), bei der Strukturförderung oder im Agrarbereich. Schließlich existieren auch unter den Bewerbern politische Schmerzgrenzen. Vorerst reicht die Reaktion auf die geplante Aussperrung ihrer Arbeitnehmer von Frust bis Erbitterung. Tschechien solle grundlos und auf lange Sicht eine der vier Grundfreiheiten des europäischen Binnenmarktes vorenthalten werden, wettert das Prager Außenamt - eine EU-Mitgliedschaft zweiter Klasse. Ähnliche Töne kommen aus Warschau, Bratislava oder Budapest. An den beiden Donau-Metropolen wird laut darüber nachgedacht, wie man die Fesseln am besten abstreifen könnte. Es müsse näher untersucht werden, welchen Staaten gegenüber Reglementierungen überhaupt nötig seien, heißt es vielsagend in Budapest.
Eigentlich hat Brüssel das längst erledigt und festgestellt, der Zustrom werde sich auch bei voller Freizügigkeit in Grenzen halten. Sollten acht der zehn Bewerberländer (ohne Rumänien und Bulgarien) gleichzeitig beitreten, dürfte er zunächst auf jährlich 70.000 bis 150.000 Arbeitssuchende anschwellen, nicht mehr. Nach zehn Jahren wird mit einer Halbierung gerechnet. Obwohl zwei Drittel davon voraussichtlich nach Deutschland gehen, würde dies noch nicht einmal ausreichen, die Überalterung der dortigen Bevölkerung zu kompensieren und die Sozialkassen flüssig zu halten. In Brüssel hofft man deshalb nicht ohne Grund, das Problem möge sich angesichts des deutschen Demographie-Dilemmas nach der Bundestagswahl in Luft auflösen.
Schutz vor Billigarbeit
Als problematisch gelten allein mögliche Pendlerströme in die Grenzgebiete, vor allem in die ostdeutschen Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit. Befürchtungen gibt es auch für Branchen wie das Baugewerbe und das Handwerk. Allerdings geht gerade für mittelständische Unternehmen in diesen Sektoren die Gefahr weniger von der Freizügigkeit der Arbeitskräfte als jener der Dienstleistungen aus. Bei der Dienstleistungsfreiheit, einem weiteren Kernbereich des EU-Binnenmarktes, für den Deutschland Übergangsfristen wünscht, bleibt Brüssel bisher stur. Wollte man auch hier die Schotten dicht machen, meint Günter Verheugen nicht zu Unrecht, könne man die Osterweiterung auch gleich lassen.
Das Defensivspiel gegen die Konkurrenz aus dem Osten wird den Grenzregionen oder dem deutschen Mittelstand ohnehin nur eine Atempause verschaffen. Längerfristig kann das Rezept nur sein, offensiv die Märkte im Osten zu suchen. Auf diesem Gebiet hat sich bislang - von Ausnahmen abgesehen - herzlich wenig getan. Die einst hämisch verlachte "polnische Wirtschaft" gilt heutzutage als dynamischste in Osteuropa. Was daher Not täte, sind nicht Abschottungs-Strategien zur Bedienung von Stammtisch-Parolen, sondern Weichenstellungen in Richtung Wirtschaftsverflechtung. Wo sind die Förderprogramme, mit denen nicht überflüssige Einkaufstempel oder Bürobauten in den ostdeutschen Sand gesetzt, sondern Oder- und Neiße-Brücken errichtet werden oder zu grenzübergreifenden mittelständischen Investitionen auf beiden Seiten ermuntert wird? Und zum Schutz der Arbeitnehmer vor untertariflicher Billig-Arbeit wäre beispielsweise ein entsprechendes Vergabe-Gesetz für öffentliche Aufträge bedeutend hilfreicher als ein Einmauern des deutschen Arbeitsmarktes.
Das Thema wird in der nächsten Ausgabe mit einer speziellen Betrachtung zu deutschen Befürchtungen fortgesetzt.
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