Mit Vehemenz versuchen die USA und Großbritannien eine Resolution im UN-Sicherheitsrat durchzudrücken, die den Irak zur Aufgabe seiner Souveränität zwingen soll. Die von der Bush-Administration verlangte Ermächtigung zum Präventivkrieg stellt alles in den Schatten, was es bisher an UN-Beschlüssen zur Irak-Frage gab.
Seit Januar kündigen Vertreter der US-Administration mit unterschiedlichen Begründungen und wechselnder Intensität ein militärisches Vorgehen gegen den Irak an. Die derzeitige Argumentation geht von der Überzeugung aus, dass die irakische Führung versuche, in den Besitz nuklearer Waffen zu kommen. Bis ein Einsatz derartiger Waffen gegen die USA den Verdacht beweise, könne man jedoch nicht warten, besagt die von Amerikanern und Briten im Sicherheitsrat eingebrachte, "verschärfte" UN-Resolution. Ein Regimewechsel sei unabdingbar, darunter werden der Sturz oder gar die Beseitigung Saddam Husseins verstanden.
Demgegenüber bestätigen unabhängige Institutionen und Persönlichkeiten eine akute Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen in der Hand Bagdads keineswegs: Die Internationale Atomenergie-Behörde (IAEO) in Wien erklärt, dass ihr keine neueren Informationen über ein irakisches Atomprogramm vorliegen. Das Londoner Institut für Strategische Studien (IISS) zieht in einer Studie den Schluss, dass der Irak zur Herstellung nuklearer Waffen nur in der Lage ist, wenn es ihm gelingt, spaltbares Material aus dem Ausland zu erhalten. Das Carnegie Endowment for International Peace in Washington verweist auf das Fehlen jeglicher Trägermittel interkontinentaler Reichweite für Massenvernichtungsmittel. Auch der ehemalige amerikanische UN-Waffeninspekteur Scott Ritter bezweifelt, dass der Irak gegenwärtig die Fähigkeit besitzt, einsetzbare Massenvernichtungswaffen herzustellen. Der designierte Leiter einer neuen UN-Waffenkontrollkommission, der Schwede Hans Blix, teilt diese Zweifel.
Sanktionen und Inspektionen
Vor der UN-Vollversammlung hatte George Bush die Weltorganisation kürzlich seiner Wertschätzung versichert. Er werde mit ihr zusammenarbeiten, um ihren Beschlüssen Geltung zu verschaffen, hieß es. So entstand der Eindruck einer Abkehr vom unilateralistischen Kurs und der Hinwendung zu einer gemeinschaftlichen Politik. In den vorangegangenen Monaten hatte sich UN-Generalsekretär Annan bemüht, den Irak zu bewegen, einer Wiederaufnahme der 1998 abgebrochenen Vor-Ort-Inspektionen von Waffendepots und Produktionsanlagen zuzustimmen. Wie sich zeigt, nicht ohne Erfolg.
Doch die Rede Bushs wäre missverstanden, würde sie als Bereitschaftserklärung gedeutet, wieder die Autorität der Vereinten Nationen zu respektieren. Ganz im Gegenteil ist das Weiße Haus keinen Fingerbreit von seinen bisherigen Ankündigungen gegenüber dem Irak abgerückt - weder vom Ziel des Regimewechsels, noch von der Strategie einer gewaltsamen Erzwingung. Dazu Präsident Bush: "Wir werden mit dem UN-Sicherheitsrat an den notwendigen Resolutionen arbeiten. Aber an den Absichten der Vereinigten Staaten sollten keine Zweifel bestehen. Die Resolutionen des UN-Sicherheitsrates werden umgesetzt - oder ein Vorgehen gegen den Irak wird unvermeidlich. Ein Regime, das seine Legitimität verloren hat, wird auch seine Macht verlieren."
Die Regierung in Bagdad sieht sich mit fünf Forderungen der USA konfrontiert. Sie soll alle Massenvernichtungswaffen zerstören, jegliche Unterstützung des Terrorismus unterlassen, die Verfolgung der Zivilbevölkerung beenden, alle Vermissten aus dem Golfkrieg freilassen, jeden Handel mit Öl außerhalb des Programms "Öl für Nahrung" einstellen. Forderungen, die ihrer teils vagen, teils maximalistischen Formulierung wegen nicht überprüft werden können, was umgekehrt heißt: Auch eine Missachtung dieser Forderungen ließe sich unwiderlegbar behaupten. Sie sind folglich zur Begründung von Gegenmaßnahmen beliebiger Art geeignet. Auffälligerweise findet sich die konkrete und verifizierbare Forderung nach Fortsetzung der Waffeninspektionen nicht im Katalog von Bush.
Es trifft im Übrigen nicht zu, dass Bagdad bis zum jüngsten Angebot von Außenminister Sabri das begründete Verlangen nach weiteren Waffeninspektionen mit einem verstockten Nein beantwortet hat. Es gab lediglich die Weigerung, diese Frage losgelöst von jener der Wirtschaftssanktionen zu behandeln. Was man genau tun muss, um auf eine Lockerung und schließliche Aufhebung der ökonomischen wie militärischen Strangulierung hoffen zu können, würde auch jede andere irakische Regierung wissen wollen. Die Wiederaufnahme von UN-Rüstungskontrollen mit Zusagen für Sanktionserleichterungen bei erfüllten Abrüstungsauflagen zu verknüpfen, ist keine unbillige Vorbedingung. Unbillig ist vielmehr die Forderung nach "bedingungsloser" Akzeptanz der Waffeninspekteure.
UN-Generalsekretär Annan, der am selben Tag wie Präsident Bush vor der Vollversammlung sprach, hat auf den Zusammenhang von Sanktionen und Inspektionen ausdrücklich hingewiesen. Sein Lösungsansatz ist offenbar ein grundlegend anderer als der des Weißen Hauses. Er will die Irak-Frage mit politischen Mitteln regeln, um allen Seiten zu garantieren, was ihnen zusteht: dem Irak die schrittweise Rückkehr in das internationale System, seinen Nachbarn Sicherheit - auch vor der irakischen Armee.
Die UN-Resolution 687 von 1991 gilt fort. Sie verpflichtet den Irak zu dulden, dass seine Rüstung durch Vor-Ort-Inspektionen überwacht wird, und muss bis auf weiteres ein Element der Gesamtlösung des Irak-Problems bleiben. Die EU etwa sollte sich mit einem europäischen Inspektionsteam daran beteiligen oder gar selbst die Führung der Mission übernehmen. In Ziffer 14 bestimmt dieselbe Resolution, dass die dem Irak erteilten Abrüstungs- und Kontrollauflagen Schritte darstellen, die auf eine von Massenvernichtungswaffen (samt Trägermitteln) freie Zone im gesamten Mittleren Osten zielen. Dass die US-Militärpräsenz in der Region über das Ende des Golfkriegs 1991 hinaus aufrechterhalten blieb, hat dazu beigetragen, gerade dieses Vorhaben zu unterlaufen. Es bedarf gerade jetzt der Reaktivierung - eine von der EU vorgeschlagene Konferenz über regionale Rüstungsbegrenzung wäre ein Anfang, denn Abrüstung und Rüstungskontrolle sind in den vergangenen Jahren konzeptionell entwertet worden. Wer anderen Staaten die Beseitigung seiner Massenvernichtungswaffen abverlangt, muss sich selbst an die für alle geltenden Regime halten. Das Desiderat konsequenter und genereller Ächtung von Massenvernichtungswaffen steht und fällt damit, dass zentrale Vertragswerke allseitig umgesetzt und vervollständigt werden. Das gilt für den gekündigten ABM-Vertrag ebenso wie den Kernteststoppvertrag, den Nichtverbreitungsvertrag wie das Abkommen über das Verbot von B- und C-Waffen.
Georgien, Westbank, Kaschmir
Die auch nach dem Einlenken Saddam Husseins in der Inspektionsfrage fortbestehende Angriffsdrohung gegen den Irak wird nun mehr denn je im Kontext des Anti-Terror-Krieges propagiert. Zu den gravierendsten Begleiterscheinungen einer militärisch verengten Auseinandersetzung mit Terrorgewalt gehört die Verrohung der internationalen Politik. Jeder rechtswidrige Übergriff, den ein antiterroristisches Motiv bemäntelt, kann inzwischen auf Nachsicht oder gar Billigung zählen. Russland bombardiert das Pankisi-Tal im souveränen Nachbarland Georgien. Israel nimmt die arabische Bevölkerung der Westbank und des Gaza-Streifens in Geiselhaft. Pakistan und Indien bedienen sich wechselseitig terroristischer Praktiken, um eigene Anhänger zu unterstützen und die des Kontrahenten zu schwächen. In allen drei Krisenregionen - Tschetschenien, Palästina, Kaschmir - ist die Suche nach einer politischen Konfliktlösung praktisch zum Erliegen gekommen. Dabei wäre nichts geeigneter, den Nährboden terroristischer Auflehnung dauerhaft zu beseitigen, als das Ende der langandauernden Bürgerkriege.
Der nächste Golfkrieg ist noch längst nicht abgesagt. Die Bundesregierung hat entschieden, sich daran weder mit Soldaten noch mit Geld zu beteiligen. Sie sollte sich diese Entscheidung von niemandem abhandeln lassen. Der Griff zu den Waffen ist zulässig zur Abwehr einer gewaltsamen Aggression. Anders als im Sommer 1990 begeht der Irak keine militärische Aggression. Er wäre mit Aussicht auf Erfolg dazu wahrscheinlich nicht einmal imstande. Ohne die ernsthafte Ausschöpfung aller gegebenen politischen Lösungsmöglichkeiten wäre der Griff zu den Waffen ein Akt der Willkür. Jede Regierung, die daran mitwirkt - sei es durch militärischen Beistand, logistische Hilfe oder politische Unterstützung - übernimmt Mitverantwortung. Für die Folgen, für die Opfer, für die Toten.
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