Man muss ein paar Tatsachen vorausschicken, um das Segenreiche einer neuen Therapie-Station zu erfassen, die sich in der Torstraße 66 angesiedelt hat: Berlin ist deprimäßig Spitze. Der Öffentliche Dienst liegt häufiger auf der Couch, als er hinterm Service-Tresen anzutreffen ist. Der arbeitslose Rest flüchtet in Drogen und Aggression. Der psychosomatisch zerrüttete Berliner sitzt ganz innen in einer Matrjoschka des Versagens: Weltwirtschaft, Manager, Politiker, Stadt, Bank, Kiez, Arbeitsamt, Nachbarschaft - Schale um Schale. Im Innern er. Kauernd, atemlos, schlaflos vom Krachen der fallierenden Gewerbe, wie vom dumpfen Gehämmer der Autoaggressionexzesse.
"Sofort, wenn das Ich geschwächt ist, schlägt das Über-Ich zu", hat ein Kenner for
nner formuliert. Da ist der point of no return, an dem sich seine unablässig verdichtende Lebensspirale aus Versagen Depression nach unten windet. Von außen muss dann Hilfe kommen. Und sie kommt von Polen, die eine Strategie entwickelten, wie sie nur bei den melancholischen Meistern des Versagens ( s.a. Fußball-Weltmeisterschaft ) am Polenmarkt geboren werden konnte, Lebenskünstler, denen die antriebs- und kaufkraftlosen Herden müllgesichtiger Berliner tief ins Herz geschnitten haben müssen. Sie eröffneten den "Club der polnischen Versager". Bereits der erste Therapieabend im Sälchen des Clubs, das, abfallend in die Erde hineingegraben, barst vor bekennenden Versagern und das Massenscheitern unter den konservierten Temperaturen des vorangegangenen Hurrikanabends zu einer hochkonzentrierten Brühe aus Versagensschweiß und Scheiternsalk aufkochte, war eine Demonstration von Leid und Befreiungswillen. Und aus der Brühe erhoben Freiwillige ihre Häupter, um den Versagern wieder ein Gesicht zu geben und gegen die Zumutungen des Raubtierkapitalismus das Recht aufs Scheitern einzufordern, ja in diesem Akt der Offenbarung Lustgewinn zu erfahren. Ein subversives Völlegefühl verschönte die Züge der eben noch lemurenhaft Dahinwankenden. Wenn unter dem Jubel des Publikums am Ende der Geständnisse die bis dato zwanghaft aufbewahrten Dokumente des Scheiterns im Schredder vernichtet wurden, schien es, als wäre für die Helden der Kreislauf aus Dämlichkeit und Depression, Ich-Schwäche und Über-Ich-Brummen zerschlagen, als würden die von den Schultern brechenden Lasten von den darauf einsetzenden Balalaikaklängen federleicht aus dem Club gewirbelt. (Eine Anmerkung: Künftig dürfte der Schredder als Vernichtungsinstrument kaum ausreichen. An Feuerbestattung größerer stofflicher Versagensmonumente wäre hier zu denken, wie an Voodoo-Puppen, um entmenschten Verursachern des Scheiterns - hier sei auf die feinen Nuancen zwischen Scheitern und Versagen verwiesen - gerecht werden zu können.) Welche Dramen gut dokumentiert vor aller Augen! Von dem Mann aus dem Berliner Westen, der sich unrechtmäßig in den Besitz eines Duo-Rollers, der im Osten Behinderten zur notwendigen Flexibilität verhalf, gebracht hatte. Der jahrelang unter hohem Verbrauch von sachlichen und menschlichen Ressourcen versuchte, ihn zum Laufen zu bringen. Aber letztlich an seinem Restgewissen scheiterte, der Scheu, angesichts der heute auf Secondhand-Krücken herunterrationalisierten Behinderten an denselben mit einem herausgeprotzten Edel-Duo vorbeizuflitzen. Oder jene Wissenschaftlerin, eine chemieblonde polnische M. Albright, der es gelang, sich die genehmigten Projektmittel, im Rahmen einer Forschungsarbeit über die Transformation der ehemaligen Ostblockstaaten, von einem Kollegen entwinden zu lassen, der dieselben in Brasilien durchbrachte, mit dem Argument, im Osten würde es bald sowieso aussehen wie in Lateinamerika und so en passant den Wünschen seiner überaus rassigen Freundin entsprach. (Voodoo-Puppe! ) Und dann der Filmfan, der vor fünfzehn Jahren beim Versuch, die Vokale zu verfilmen, denen er verschiedene Obstsorten zugeordnet hatte, sofort das Projekt beendete, als es seinem Partner nicht gelingen wollte, den darstellenden Apfel so in die Bildmitte zu rollen, dass er dort liegenbleibend seinen Vokal aufsagen konnte. Selten hat man ein ergreifenderes Dokument des Scheiterns gesehen als jene Sequenz, in der sich der Apfel ein ums andere Mal aus der Mitte entfernt, weiter- oder zurückkollernd. Am Morgen danach folgendes Erlebnis an der Kasse meines Lichtenberger Vertrauensmarktes: Ruf aus Schlange 1: " die Mauer, zweihundert Meter hoch, aber sofort!" Antwort aus Schlange 2: "und fünfhundert Meter Todesstreifen!" Das Versagen erneut hinter Mauern zu verbergen führt nicht weiter. Der Pole zeigt den Weg.