A
Abfall für alle Er, der überall dabei war, ist nirgendwo mehr dabei. Den Höhepunkt der öffentlichen Präsenz markierte das Buch Abfall für alle (1999). Ursprünglich war es ein Internet-Tagebuch, heute würde man sagen: ein Blog, in dem es viel um Beobachtungen über die Berliner Gesellschaft ging. Goetz war also zweifach präsent: in der analogen Welt und in der digitalen. In der digitalen war er sogar ein Pionier. Und heute: kein Rainald Goetz auf Twitter, Facebook unterwegs. Jedenfalls nicht unter diesem Namen. Auch aus der Berliner Gesellschaft ist er verschwunden. Überhaupt aus der Öffentlichkeit. Goetz-Chronisten sagen, dass das Verschwinden mit der Verleihung des Büchner-Preises 2015 begann. Es gibt Gerüchte. Das schönste: Er arbeitet wie zu Zeiten von Irre wieder als Arzt. Aber wir wollen diesen Gerüchten nicht nachgehen, wollen ihn in Ruhe lassen, denn mit seinem Verschwinden aus unserer überhitzten Öffentlichkeit ist er irgendwie neuerlich Avantgarde (➝ Zuuhh!! Muttie Mum!!). Vielleicht taucht er ja mal mit einem Roman auf. Michael Angele
Angst vorm Fliegen Die Story von Erica Jongs (➝ Esther Vilar) millionenfach verkauftem Debüt ist schnell erzählt: Isadora Wing, wie Jong Dichterin und jüdisch-amerikanische Intellektuelle, reist trotz Flugangst mit ihrem Ehemann, einem Psychiater – die autobiografischen Züge sind gewollt – nach Wien. In der Stadt Freuds hebt Isadora mit dem hippiehaften Adrian Goodlove sexuell ab, um sich von sexuellen Skrupeln zu befreien.
Was dieser, wenn auch simpel gestrickten, Dreiecksgeschichte kulturgeschichtlichen Status verleiht, ist der obszön-intellektuelle Smalltalk, seine derbe Witzigkeit. Sie erschien 1973 zur rechten Zeit, in der zweiten Welle des subjektivistischen Feminismus.
Feministinnen, anders als Henry Miller und John Updike, kritisierten die Geschichte als anti-emanzipatorisch, als Ausflug in die Fantasie, weil Isadora zu Mann und New Yorker Milieu zurückfindet, wie auch Erica Jong. Und heute? Auf Twitter ist sie sehr aktiv – mit beachtlicher Gefolgschaft. Helena Neumann
C
Cast Away „Wenn du weg bist, bist du weg!“, sagt ein Freund immer über den Tod. Weg war auch Tom Hanks in seiner Rolle als Chuck Noland (laut Wikipedia steht „C. Noland“ für „see no land“). Hanks spielt einen FedEx-Manager, der bei einem Flugzeugabsturz ins Meer stürzt. Alle sterben, nur Hanks rettet sich mittels eines Notfloßes aus der Kabine. Er strandet auf einer Insel und ist so, wie der Film aus dem Jahr 2000 heißt: Cast Away – Verschollen (Regie: Robert Zemeckis). Anfangs noch hoffend, gefunden zu werden, gibt er nach und nach die Hoffnung auf. Nach einer selbst durchgeführten Zahnentfernung (➝ Dr. Alban) erfolgt der Sprung auf der Zeitachse, Hanks ist passabler Inselbewohner geworden, zusammen mit seinem Volleyball „Wilson“. Eines Tages kann er sich retten.
Das Ende der Geschichte ist sinnbildlich für menschliches Zusammenleben: Die Verlobte ist mit seinem Zahnarzt verheiratet, sie haben ein Kind und einen Fernseher in der Küche. Die Liebe, die Hanks sich als Rettungsanker bewahrte, ist durch den schnelleren Gang der Zivilisation, Makel zu beheben, bereits passé. Er landet im Vakuum. Jan C. Behmann
D
Der Verschollene Die Erstausgabe von 1927 hieß Amerika, heute kennt man das dritte von Kafkas Romanfragmenten unter dem Titel Der Verschollene, wie es der Autor selbst genannt hatte. Das erste Kapitel erschien zudem als Der Heizer schon 1913 und sollte gemeinsam mit Die Verwandlung und Das Urteil als eine Trilogie namens Die Söhne verstanden werden.
Verwirrend, in der Tat. Zumal in dem Buch eigentlich niemand verloren geht. Karl Roßmann kommt nach Amerika (➝ Jackie Chan), und dann geht langsam, aber sicher alles den Bach runter. Verschollen ist allerdings Kafkas Motivation, den Roman fertig zu schreiben – wie auch beim Prozess und beim Schloss. Die Geschichte bricht einfach ab, unvermittelt. Leander F. Badura
Dr. Alban Beim in den 90er Jahren sehr populären Eurodance war vermutlich damals schon klar, dass man es nicht mit einem extraordinär zeitlosen musikalischen Phänomen zu tun hatte. Und so mussten die Sänger nach dem Ende dieser Dekade des dröhnenden Partysounds entweder etwas gänzlich Neues anfangen oder aber in Großraumdiskotheken an Autobahnkreuzen ein eher würdeloses Dasein als halbironische Nostalgieprojektionsflächen fristen.
Nicht jedoch der 1957 in Oguta, Imo, Nigeria, geborene Dr. Alban, der mit 18 nach Schweden emigrierte. Der Star der Szene war bereits zu Beginn seiner Karriere Zahnarzt (➝ Cast Away) mit eigener Praxis in Stockholm. Dennoch trifft man ihn heute nicht im Kittel an, sondern auf miet24.de, buchbar für die eigene Veranstaltung. It’s his life, aber dennoch: Warum? Tilman Ezra Mühlenberg
E
Erwin Kostedde Der Sohn einer Deutschen und eines afroamerikanischen Soldaten wächst in Münster auf, mit 28 Jahren wird Erwin Kostedde 1974 der erste schwarze Nationalspieler Deutschlands, außerdem Torschützenkönig in Frankreich und Belgien, bei Kickers Offenbach ist er bis heute Rekordtorjäger.
„Ich habe mich immer als jemanden gesehen, der schwarz und weiß gleichzeitig war“, sagte er einmal. Eine Erfolgsgeschichte also? Nicht nur. Schon als Kind wird Kostedde rassistisch beschimpft, seine Berufung in die Nationalmannschaft stößt auf offene Ablehnung. Es kommt noch schlimmer: Nach seinem Karriere-Ende wird er aufgrund windiger Zeugenaussagen im Jahr 1990 zu Unrecht eines Raubüberfalls verdächtigt, monatelang sitzt er unschuldig im Gefängnis. Es sind diese Geschichten, die mehr hängen bleiben als die großen Erfolge. Auch das ist Rassismus. Heute führt der inzwischen 72-Jährige ein zurückgezogenes Leben nahe seiner Heimatstadt Münster. Timo Reuter
Esther Vilar Sie wurde von mir früher gerne mit der Burgschauspielerin Erika Pluhar verwechselt (Pluhar, Proksch, der Fall Lucona, die 70er Jahre. Alles war möglich). Esther Vilar war schon nicht pc, bevor es Political Correctness überhaupt gab. Es ging um ihr Buch Der dressierte Mann. Frauen ließen sich von Männern aushalten und würden überhaupt nicht unterdrückt, stand darin. Alice Schwarzer nannte sie deswegen in einem TV-Duell „Faschistin“. Nach dem Dressierten Mann schrieb sie weitere Bücher, an steilen Thesen mangelte es ihr nie. Vilars Thema ist die Angst vor der Freiheit, also die Sehnsucht, die Verantwortung für sein Handeln abzugeben.
Was ist aus ihr geworden, die einst geschrieben hat, jede Frau über 50 sei nichts weiter „als ein Haufen Fett, der nur durch die Haut zusammengehalten“ wird? In einer Talkshow von 2011, da war die 1935 Geborene schon weit über 50, sah sie jedenfalls prima aus. Provozieren hält frisch, das können wir von ihr lernen (➝ Angst vorm Fliegen). Im Januar hatte De dresseerte Mann in plattdeutscher Version am Hamburger Ohnsorg-Theater Premiere. Ruth Herzberg
O
Ostpromis Ostpromis sind solche, die tatsächlich oft verschollen sind oder das Zeitliche gesegnet haben. Wenn an sie erinnert werden soll, dann geht das wohl oft nur mit Verweisen auf westliche Kollegen. Ein Beispiel ist der schon vor einiger Zeit verstorbene begnadete Schauspieler Rolf Ludwig (1925 – 1999). Manchmal wurde er als „Harald Juhnke des Ostens“ beschrieben. Vielleicht wegen des gemeinsamen Alkoholproblems. Eine bekannte Chanson- und Schlagersängerin (Regina Thoss) galt als „Milva des Ostens“.
Promi-Biografien Ost erzählen sich meist unter Anwendung einer Art Vorher-nachher-Technik. Es braucht immer die ganze Geschichte einschließlich Verstrickung oder Opposition. Erst dann finden sie gesamtdeutsche Aufnahme, oder ihre Spur hat sich verloren. Magda Geisler
J
Jackie Chan Er war der Meister der Eastern und brach die traditionelle Form des Kung-Fu-Films auf. Jackie Chan drehte seit den 1970ern zig Filme mit kampfkunstrelevanten Szenen und einer großen Portion Humor. Seine meisterliche Verbindung von Akrobatik, Kung-Fu, Stunts und Slapstick begeisterte lange ein Nischenpublikum, auch wenn sich größere Produktionen bei seiner Idee bedienten, misslungene Stuntszenen in den Filmabspann zu integrieren. Hollywoodbekannt wurde er 1995 mit Rumble in the Bronx. Dann vergaß ihn das breite Publikum (➝ Zweite Reihe) schon wieder. 2016 erhielt er immerhin den Ehren-Oscar. Im gleichen Jahr wurde öffentlich, dass er in die Steuerhinterziehungsmasche der Panama Papers verstrickt ist. Tobias Prüwer
W
Werner Enke Die Liga der gewöhnlichen Gentlemen, diese famose Hamburger Band, fragte mal in einer Top-Single: Kennst du Werner Enke? Andere interessante Frage: Was macht der eigentlich? Nicht zu viel, wahrscheinlich. Enkes Ding war stets, nicht zu viel zu machen. Der Typ aus Zur Sache, Schätzchen hatte seine besten Ideen 1968. Dennoch hat vieles, was der Antiheld in seinen Filmen sagte, noch heute Gültigkeit: dass es böse enden wird etwa. Er lebt immer noch in Schwabing, sagt immer noch schlaue Sachen: „Wir wollten rebellisch sein. Doch wenn man heute seinen Bekanntenkreis betrachtet: Die Leute sterben an den übelsten Krankheiten – das Altwerden ist ein großes Problem.“ Marc Peschke
Z
Zuuhh!! Muttie Mum!! Das Bistro meines Vertrauens, vom US-amerikanischen Hipstertum kaum behelligt, teile ich mit täglich einkehrenden Figuren. Wir lesen Zeitungen, kommentieren sie zusehends fassungsloser und grüßen Robert „Bob“ Rutman, den 87-jährigen Maler und Avantgarde-Musiker. Aus dem Berlin der 30er Jahre in die USA emigriert, kehrte Bob 1989 in seine Geburtsstadt zurück. Mit dem Steel Cello Ensemble – Stahlskulpturen, die mit einem Geigenbogen gestrichen werden, die den Sound herannahender Bomber irritierend akkurat heraufbeschwören – ging er schon mit den Einstürzenden Neubauten auf Tournee. Auf dem Album Zuuhh!! Muttie Mum!! erschien auch das Stück Dresden. Jeder Strich ist der Hauch einer Berührung mit einem in den Verwerfungen des 20. Jahrhunderts Verschollenen. Wird uns das im 21. auch blühen?
Von Blixa Bargeld hat man auch länger nichts gehört. Neulich soll er bei einem Franzosen im Bötzowviertel gesichtet, besser gesagt: gehört worden sein. Es wurde beobachtet, wie er mit einem langen Mantel das Lokal verließ und in einem Taxi verschwand. Marc Ottiker
Zweite Reihe Letztens stand ein Ehepaar vor mir, bei einer Gala. Die kennt man doch, dachte ich. Ich war sogleich peinlich berührt, weil ich keine Vorstellung hatte, wer diese Menschen waren. Es stellte sich dann durch ihre eigene Erklärung heraus. Sie sind, tja, wie sagt man, „Darsteller“ in verschiedenen Reality-Soap-Formaten. Leider, und das ist keine nennenswerte bildungsbürgerliche Attitüde, schaue ich kein lineares Fernsehen. Die Recherche ergab: nichts verpasst bei den beiden.
Hingegen stand letztens ein grandioser, noch ganz und gar nicht verschollener Schauspieler unseres lokalen Theaters neben mir in der Straßenbahn. Ich nahm mir ein Herz und sprach ihn an. Er freute sich sichtlich, für seine harte Arbeit auch mal im öffentlichen Raum akklamiert zu werden. Neben ihm verdunkelte sich dabei das Gesicht seiner Begleiterin merklich und dauerhaft. Warum? Sie ist der aktuelle „Star“ desselben Ensembles und verhielt sich dann doch nur wie zweite Reihe. Jan C. Behmann
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