Verschwende keine Jugend

Serien Michael Pekler schaut die Netflix-Produktion „Curon“ am liebsten im Südtiroler Original. Spoiler-Anteil: 23%
Ausgabe 27/2020

Der Reschensee ist tief. Aber nicht tief genug, um alles zu verbergen, was er seinerzeit verschluckte. Was heute als pittoreske Attraktion scharenweise Touristen anzieht, ist das Resultat einer in mehrfacher Hinsicht katastrophalen Entscheidung.

Für ein Speicherkraftwerk wurden im Sommer 1950 in dem Südtiroler Tal die Zuflüsse gestaut. Die Vinschgauer Dörfer Graun und Reschen versanken in den Fluten. Ein faschistisches Projekt, von Nachkriegs-Italien skrupellos mithilfe des Mailänder Montecatini-Konzerns umgesetzt. Nur der Grauner Kirchturm ragt 70 Jahre später noch immer als stummer Zeuge politischer Willkür und ökologischen Wahnsinns aus dem Wasser.

Ein Wahnsinn der anderen Art, der mit der Geschichte des Dorfes unmittelbar in Zusammenhang steht, ist wiederum das treibende Motiv von Curon – der italienische Name des Ortes dient der Netflix-Serie als ebenso schlichter wie prägnanter Titel. Er befällt Menschen, wobei, wie es sich für Mystery-Serien geziemt, die Ursache für deren Wahnsinnstaten lange im Verborgenen bleibt. Nur so viel weiß man bereits nach der ersten Episode: Vorsicht, wer die aus dem Turm der Pfarrkirche im See entfernten Glocken läuten hört – dabei dürfte es sich um das eigene Totengeläut handeln. Und Achtung, falls man sich noch in der Adoleszenz befindet. Gedanken an die Zukunft könnten dann nämlich verschwendet sein.

Weil aber selbst die herkömmlichsten Genremotive, mit denen auch Curon ausgiebig hantiert, immer auch noch eine Geschichte benötigen, reist eine Familie in das Heimatdorf der Mutter. Anna (Valeria Bilello) hat vor 17 Jahren als Teenager im elterlichen Hotel die traumatischsten Minuten ihres Lebens überstanden, nun kehrt sie, nach einer gescheiterten Ehe, mit ihren Zwillingen Daria (Margherita Morchio) und Mauro (Federico Russo) zurück nach Graun, an den Ort des Grauens. Ihre Mutter soll sich, so erzählt man sich im Dorf, damals erschossen haben, Anna weiß es in schrill ausgemalten Erinnerungsfetzen besser. Ihr Vater Thomas (Luca Lionello) wohnt immer noch im mittlerweile heruntergekommenen Familienhotel, als ein zottelinger Sonderling, der sich einen wilden Wolf im Gehege hält. Dass der Ort von nächtlichen Stromausfällen geplagt wird, ist angesichts seiner Geschichte blanke Drehbuchironie, ebenso wie der Umstand, dass die Mailänder Neuankömmlinge aus der Stadt des Montecatini-Konzerns anreisen. Und man wartet auf den Kollateralnutzen von Mauros Hörgerät.

Natürlich ist die jüngere Serien- und Filmgeschichte an Curon nicht spurlos vorübergezogen, im Gegenteil haben vor allem Jordan Peeles Doppelgänger-Schocker Wir und der Horror aus benachbarten finsteren Tälern und Landkreisen tiefe Spuren hinterlassen. Doch die Alpenserie formt aus dem populärkulturellen Sammelsurium an Genremotiven und Versatzstücken eine durchaus stimmungsvolle Geschichte. Das liegt in erster Linie am Schauplatz, der zweckmäßig bespielt wird – Menschen tauchen buchstäblich auf oder verschwinden in den Bergwäldern, verirren sich in Bunkern oder erforschen Jagdhütten – und dessen sich die Erzählung meist sinnstiftend annimmt. Und dass sich die Zwillinge in der Dorfschule durch Kiffen und Liebesinteressen langsam, aber sicher sozialisieren und Verbündete finden, gehört bei Serien dieser Art ganz einfach zum guten Ton. Apropos: Dass ausgerechnet die anzuratende italienische Originalversion das Lokalkolorit der Gegend am besten widerspiegelt, liegt kurioserweise daran, dass in Graun fast ausschließlich Deutsch gesprochen wird – aber eben nicht so, als säße man im Berliner Synchronstudio.

Doch irgendwann muss jedes Fernsehmysterium enthüllt werden. Denn das Böse, das hier vielmehr als das andere zum Vorschein kommt – als Spiegelbild der unerfüllten Wünsche und Begierden –, darf selbst im entlegensten Waldwinkel und im mit Gitterstäben versehenen Hotelzimmer nicht einfach tun und lassen, was es will. Auch nicht im Dreiländereck. An dieser Stelle legt Curon dann leider auch an Tempo zu, erklärt das Tal zum Jagdgebiet und zeigt sich zusehends lösungsorientiert. Dafür findet die Serie immerhin bis zuletzt hübsche Bilder: Während die Erwachsenen mit Prozession und Scheiterhaufen ihren reaktionären Katholizismus pflegen, sitzt die Jugend beim Lagerfeuer und überlegt, was in Zukunft zu tun sei.

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