Pro: Richtige Richtung
Christian Lindners kleinbürgerliche Prunkhochzeit zu stören, das haben sie leider verpatzt; angeblich hatte man sich im Hotel geirrt. Doch auch so waren die Punks auf Sylt die eigentlich einzige lustige Mediengeschichte in diesem Krieg-und-Krisen-Sommer. Ermöglicht wurde sie vom 9-Euro-Ticket, das aber auch ansonsten zu den Lichtblicken des Jahres 2022 gehört.
Gewiss: Die Bahn war heuer offenbar noch überforderter als sonst schon üblich, der plötzliche Fahrgastboom auf zumindest bestimmten Strecken wird dabei eine Rolle gespielt haben. Doch die Vorteile des Programms überwiegen in jeder Hinsicht. Wann war es zum Beispiel zuletzt sonst schon einmal der Fall, dass ein im Grundsatz progressives politisches Vorhaben von einer Mehrheit der Deutschen begrüßt wurde?
Etwa 30 Millionen haben den verbilligten Fahrschein nach Zählung des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen besessen. Das ist – wie die 55 Prozent der bundesweit Befragten, die nach einer Umfrage des Spiegel eine Fortsetzung wünschen – eine Hausnummer. Um 42 Prozent übertrafen die „Bewegungen im Schienenverkehr“ diesen Sommer laut Statistischem Bundesamt das Niveau von 2019. Das sollte man sacken lassen, bevor man sich in kritischen Einzelheiten verliert.
Was konkret das Ticket in den vergangenen Monaten bewirkt hat, darüber streitet man offenbar noch. Laut Deutschlandfunk weisen jüngste Auswertungen des Verkehrsdatenspezialisten Tomtom darauf hin, dass im Juli viele Menschen aufgrund des Tickets das Auto zugunsten der Bahn haben stehen lassen. Der Interessenverband Agora Verkehrswende hingegen gelangt zu dem Ergebnis, dass das Angebot eher zusätzlichen Verkehr verursacht habe. Doch selbst wenn Letzteres der Fall wäre: Hier geht es nicht um eine kurzfristige Klimabilanz. Sondern um ein anderes Prinzip: Das 9-Euro-Ticket hat in den Augen der Menschen „bewiesen“, dass etwas möglich ist, was viele aus alter Gewohnheit für utopisch hielten: Ein – nahezu – kostenloser öffentlicher Personenverkehr ist möglich, wenn man ihn will – und sogar über den Nahbereich hinaus. Auch wenn also insbesondere Überlandfahrten mit dem Beinahe-Nulltarif eher einem abenteuerlichen „Trampen per Bahn“ glichen als einer entspannten Zugfahrt, wird die Erinnerung daran noch lange bleiben. Die deutsche Verkehrspolitik kann jedenfalls nicht mehr so einfach hinter diesen Sommer zurück, wie sie vielleicht will. Und das ist im Sinne einer vernünftigen, zukunftstauglichen und sozialen Mobilität nicht wenig.
Damit zu den kritischen Details: Die beiden Bahngewerkschaften EVG und GDL, die einander ansonsten gar nichts gönnen, weisen unisono auf die Belastungsgrenzen des Personals hin. Und um zu merken, dass dieselben bei der maroden Infrastruktur der Bahn in Deutschland auch im Normalbetrieb schon lange erreicht sind, muss man nun wirklich nicht vom Fach sein. Dass sich Bahnbeschäftigte eine schlichte Verlängerung des Programms unter den gegebenen Bedingungen nicht wünschen können, liegt auf der Hand. Hat das 9-Euro-Ticket aber nicht auch dazu beigetragen, deren Probleme sowie all die monierten Infrastukturmängel spektakulär und in einiger gesellschaftlicher Breite vorzuführen?
Aus all diesen Gründen war das Programm genau das Richtige. Vielleicht war es sogar ein Stück weit richtiger, als es sich diejenigen wünschten, von denen der Einfall stammt: Soweit es das Angebot von Mobilität nicht als kommerzielle Dienstleistung, sondern als fast kostenfreies Infrastrukturangebot vorführte, könnte dem 9-Euro-Ticket womöglich gar eine Diskussion darüber folgen, ob die vielfach verkorkste und glücklicherweise am Ende stecken gebliebene Privatisierungs-Reform der Bahn nicht grundsätzlich zu revidieren wäre. Es wäre nicht das erste Mal, dass eine politische Aktion am Ende auf unerwartete Gleise führt. In diesem Sinne ist die demokratische Öffentlichkeit gefragt, den Bahn-Sommer 2022 nicht zur wunderlichen Episode werden zu lassen.
Velten Schäfer
Contra: Falscher Zeitpunkt
Als ich im Juli bei meiner Mutter in Speyer war, hatte ich das 9-Euro-Ticket exzessiv für Ausflüge nutzen wollen – aber bald sank meine Motivation in den Keller. Am Ende fuhr ich seltener Zug als normalerweise bei Besuchen in Deutschland, sogar mit Vollpreistickets. Nicht einmal nach Mainz habe ich es geschafft. Eigentlich eine banale, umstiegsfreie Einstundenstrecke – aber unter den Bedingungen des 9-Euro-Sommers? Eine Stunde in die Ecke gequetscht auf dem Gang eines überhitzten Zuges mit miserabler Luft, zwischen Hunderten Leuten, zur Hälfte ohne Maske? Dann wurde die Strecke – wie übrigens auch die S-Bahn-Verbindung zwischen Speyer und dem Raum Heidelberg, Mannheim und Ludwigshafen – auch noch für Bauarbeiten unterbrochen. Man hätte also mit dem Zug von Speyer nach Ludwigshafen fahren müssen, um sich nach kurzer Fahrt in ebenfalls überfüllten Bussen in einen zweiten aus den Nähten platzenden Zug zu quetschen.
Das habe ich mir gespart, wie auch einen geplanten Trip in den Odenwald. Fahrten, die ich tatsächlich unternahm, bestätigten mich darin. Und ich war ja nur ein Heimaturlauber. Meine Schwester, die jeden Morgen mit der Bahn von Speyer nach Ludwigshafen zur Arbeit fährt, ist mit den Nerven inzwischen am Ende. Einen Sitzplatz gibt’s seit dem 9-Euro-Ticket quasi nie, sie steht jetzt eingequetscht im Gang – hin und zurück. Mehrfach kam sie erst gar nicht in den Zug hinein und daher zu spät zum Job. Sie beginnt jetzt, mit 37, den Führerschein zu machen. Wie es da Menschen im Rollstuhl geht, kann man sich ausmalen. Und vom Zustand der Toiletten schweigen wir lieber.
Überfüllung ist das eine. Das andere ist der Zusammenbruch der Betriebsabläufe seit dem 9-Euro-Ticket. Die DB war schon davor unpünktlich und unzuverlässig, dank der seit 20 bis 30 Jahren kaputtgesparten Infrastruktur. Doch ein Netz, das im Normalbetrieb gerade noch halbwegs funktioniert, kollabiert mit einem plötzlichen Fahrgastzahlen-Anstieg. Vor einem massiven Wiederaufbau des deutschen Bahnnetzes wäre ein dauerhaftes 9-Euro-Ticket eine Kampagne für den Pkw. Ohnehin kann man fragen, ob diese Öko-Duftmarke einer vernünftigen Verkehrspolitik nicht jetzt schon einen Bärendienst erwiesen hat.
Vielleicht hilft ein Hauptwohnsitz im Ausland bei der Erkenntnis: Eine echte Verkehrswende ist hierzulande momentan infrastrukturell unmöglich. Deutschland braucht ein gigantisches Bahn-Programm: Reaktivierung stillgelegter ländlicher Strecken, zusätzliche Trassen, um Güter-, Regional- und Hochgeschwindigkeitsverkehr zu trennen, massenhaft neue Züge, Wiederaufbau der im Zuge des neoliberalen Bahnumbaus vernachlässigten Basis-Infrastruktur wie Weichen und Signalanlagen. Und Milliarden, um massiv Personal auszubilden, einzustellen und ordentlich zu bezahlen, damit nicht länger der Betrieb kollabiert, wenn ein paar Leute krank sind.
Sosehr es mich als überzeugten Bahnfahrer ärgert: Die Fahrgastzahlen müssen auf ein tragbares Niveau begrenzt werden, solange das Netz mehr nicht verkraftet. Das müsste natürlich nicht über den Preis geschehen, indem man wieder die Armen aus den Zügen verbannt. Denkbar wäre etwa ein klug gestaltetes, kostenloses Reservierungssystem: Man könnte Züge so einrichten, dass ein Teil der Sitze dem Pendeln vorbehalten ist und für Freizeitfahrten in einer leicht bedienbaren App kostenlos ein Sitzplatz reserviert werden muss, bis zur Kapazitätsgrenze der Züge.
Technisch fände sich schon eine Lösung, wie man das Bahnfahren auch bei jetzigen Kapazitäten kostenlos oder sehr billig machen und dennoch überfüllte Züge vermeiden könnte. Es fehlt der Wille. Die Regierung hat aber weder Interesse daran, Armen ein halbwegs bequemes Leben zu bereiten – noch daran, ihr Lieblingskind Autoindustrie durch ein ernsthaftes Verkehrswendeprojekt zu vergrätzen.
Fabian Lehr
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