Versuch's mal mit Konfuzius

Die Doytçe Ayıp! Was hat weder Farbe noch Geruch noch eine Herkunft? Eine Tugend, die unsere neue Kolumnistin oft vermisst
Ausgabe 04/2016

Ich muss etwa acht Jahre alt gewesen sein. Wir waren in den Ferien in unserem anatolischen Dorf. Meine Mutter schickte meinen Cousin und mich mit einem Krug zum Brunnen, um Wasser zu holen. Wir verabredeten, dass ich den Krug auf dem Hinweg trage und er auf dem Rückweg. Am Brunnen sagte mein Cousin plötzlich: „Ich bin ein Junge, ich muss kein Wasser tragen, das machen nur Frauen.“ „Das ist unfair“, antwortete ich und ließ den Krug stehen.

Ein paar Jahre später, mittlerweile war ich 13, sagte der gleiche Cousin: „Der Traktor im Dorf gehört später mir. Und die Weizenfelder von Großvater auch. Ich bin der Junge.“ Wir stritten uns heftig, er muss etwa eine Armlänge von mir entfernt gewesen sein, als ich ausholte und ihm eine pfefferte. Seit dem Tag habe ich einen Spitznamen in meiner Familie. Sie nennt mich „erkek Fatma“, männliche Fatma.

Anderer Ort, andere Zeit: Gerade volljährig geworden, war ich nach einem Kneipenbesuch in Duisburg auf dem Weg nach Hause und wurde überfallen. Ein Mann packte mich, drückte mich auf den Boden, hielt mir den Mund zu und flüsterte mir ins Ohr: „Hasse Angst, wa?“ Ich hatte Glück, ein Autofahrer hielt an und bewahrte mich wahrscheinlich vor dem Schlimmsten. In dieser Nacht habe ich meine Unbeschwertheit verloren.

Wieder einige Jahre später, ich hatte gerade bei einer Zeitung angefangen, diskutierten wir in der Redaktionskonferenz über ein Thema. Ich weiß nicht mehr genau, worum es ging, aber ich weiß noch sehr genau, dass ich gegen das Thema war. Ein Kollege sagte vor der gesamten Runde: „Was ist denn mit dir los, bist du schlecht gevögelt?“ Später musste ich mir noch oft anhören, dass Frauen „was zwischen die Beine brauchen“, wenn sie ihre Meinung deutlich vertraten. Ich erinnere mich an Weihnachtsfeiern des Betriebs, auf denen Kolleginnen labyrinthartig umherliefen, um jenen Kollegen aus dem Weg zu gehen, von denen man wusste, dass sie einen anfassten.

Diese Szenen mögen auf den ersten Blick zusammengewürfelt wirken. Aber es gibt eine Gemeinsamkeit: Es ist der Anstand, der darin fehlt. Das Wort klingt ein bisschen niedlich, klingt vielleicht sogar verstaubt und altmodisch. Meine Freunde lachen, wenn ich sage, dass ein Mann immer zuerst anständig sein sollte. Im Türkischen gibt es das Wort „ayıp“. Übersetzt heißt es in etwa „wie unanständig“, und es hat eine starke Wirkung. Wenn eine Frau „ayıp“ ruft, kann man sicher sein, dass sich Leute nach dem Verächtlichen umdrehen.

Anstand hat keine Herkunft, keine Religion, keine Farbe, keinen Geruch und kein Geschlecht. Er ist so allgemeingültig, dass man ihn von Nordafrikanern genauso einfordern kann wie von Arabern, Nordamerikanern, Asiaten, Mitteleuropäern, kurz, von Menschen aus allen Himmelsrichtungen.

Gibt es eigentlich eine Philosophie des Anstandes? Im Netz findet man nicht viel, es scheint ein veraltetes Konzept. Im Konfuzianismus spielt er offenbar noch eine gewisse Rolle. Dabei scheint mir klar: Man tut anderen nicht das an, was einem selbst nicht gefallen würde. Das nenne ich Anstand. Für viele ist die Klammer einer funktionierenden Gesellschaft das Grundgesetz. Nichts dagegen. Aber wie organisieren wir unser Zusammenleben an jener Schwelle, an der Gesetze nicht greifen? Das beschäftigt mich. Ich denke, das geht eben nur mit dem so verstandenen Anstand. Ein Elend, das so viele Menschen das nicht beherzigen können.

Hatice Akyün ist deutsche Schriftstellerin mit türkischen Wurzeln. Als Die Doytçe schreibt sie für den Freitag regelmäßig über ihr Leben mit zwei Kulturen

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