Ob ein neues Medikament den Patienten nutzt oder nicht, ist eigentlich nicht so schwer festzustellen. Um das herauszufinden braucht man eine Gruppe von Erkrankten, sagen wir mal: 2.000 Menschen mit Bluthochdruck. Diese werden dann zufällig in zwei Hälften aufgeteilt. 1.000 Patienten bekommen das neue Medikament, und die anderen 1.000 ein bewährtes, älteres blutdrucksenkendes Mittel. So können Patienten und Ärzte herausfinden, ob das neue Medikament nicht nur neu – eine Innovation –, sondern ob es auch besser ist, also ein Fortschritt.
Fortschritt hieße, dass das das neue Präparat die Komplikationen des Bluthochdrucks besser verhindern müsste als das alte, vor allem Schlaganfälle und Herzinfarkte. Wenn dann etwa innerhalb von zwei
b von zwei Jahren in der ersten Gruppe bei 100 Patienten Herzinfarkte und Schlaganfälle auftreten, und in der zweiten Gruppe bei 200, dann wissen wir nicht nur, dass das neue Medikament besser Komplikationen verhindert als das alte. Wir wissen auch, um wie viel es besser ist: Von 1.000 behandelten Patienten bekommen 10 Prozent mehr keinen Herzinfarkt oder Schlaganfall.Häufig ist es aber leider umgekehrt. Das neue Medikament ist gar nicht besser als das lang bekannte, sondern schlechter. Vielleicht verhindert die neue Substanz weniger Bluthochdruckkomplikationen als die übliche Therapie, oder es treten neue Nebenwirkungen auf. Eigentlich müsste jedes neue Medikament systematisch so untersucht werden, um festzustellen, ob es für die Patienten ein Fortschritt oder ein Rückschritt ist. Dies geschieht aber nicht. Für die Zulassung einer pharmakologischen Substanz muss der Hersteller – vereinfacht gesagt – lediglich beweisen, dass sein Mittel wirkt, also in unserem Beispiel den Blutdruck senkt. Ob und wie viele Herzinfarkte und Schlaganfälle es verhindert oder gar verursacht, interessiert die Zulassungsbehörden nicht.Der Haken: kein GewinnNach der Zulassung wird das neue Mittel dann vom Hersteller als Innovation gepriesen, massiv beworben und daher auch verschrieben. Manchmal werden dann später Studien gemacht, die feststellen, ob das neue Medikament tatsächlich besser ist als die bisherige Therapie, und nicht selten muss dann die Innovation wieder vom Markt genommen werden. Für den Hersteller lohnt sich paradoxerweise die Entwicklung solcher schädlicher Medikamente trotzdem, denn zwischen Zulassung und Marktrücknahme vergehen Jahre und Jahrzehnte, und in dieser Zeit wird mit dem neuen Mittel ordentlich Geld verdient.Ob solche patientenrelevanten Studien gemacht werden, hängt vom Zufall ab. Die Gesundheitspolitik wollte vor einigen Jahren diesen gefährlichen chaotischen Missstand in Deutschland beseitigen und schuf das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen – kurz IQWiG. Dieses Institut sollte neue Medikamente bewerten und beschreiben, für welche es einen Beleg ihrer höheren Qualität gibt. Dahinter stand die Hoffnung, dass Medikamente ohne Nachweis eines Nutzens in der Regel nicht notwendig sind und daher nur in Ausnahmefällen verordnet werden, und dass dies auch noch Geld sparen würde. Gehofft wurde auch, dass die Pharmahersteller bessere, patientenrelevante Studien systematisch vor der Zulassung durchführen würden.Das Konzept war gut, es hatte nur einen Haken: Es konnte nicht zu einer Gewinnsteigerung der Pharmaindustrie führen. Es ist nämlich sehr schwer, Medikamente herzustellen, die immer besser sind als die Vorgänger. Einfacher ist es, Arzneimittel zu produzieren, die häufig nicht mehr als abgewandelte Kopien des Bekannten sind. Derzeit werden in Deutschland pro Jahr etwa 20 bis 30 neue Arzneimittel zugelassen. Die allermeisten davon sind im günstigsten Fall überflüssig und im ungünstigen Fall schädlich, aber immer eine teure Belastung für unser Gesundheitswesen. Würden die Krankenkassen solche Mittel nicht erstatten, wäre das für Patienten und Beitragszahler gut, aber schlecht für die Pharmafirmen und ihre Aktienbesitzer.Erfolgreicher LobbysturmDie Lobbyisten der Pillenhersteller liefen daher jahrelang Sturm gegen das IQWiG und schafften es schließlich, die Wirtschaftsministerkonferenz der Länder davon zu überzeugen und auch die neue schwarz-gelbe Bundesregierung, dass eine valide Überprüfung des Medikamentennutzens den Patienten und der deutschen Wirtschaft schadet. Aus der Sicht der Pharmabranche war dies ein voller Erfolg. Das neue Gesetz, das am 11. November vom Bundestag verabschiedet werden soll, schafft eine patientenorientierte Nutzenbewertung der Arzneimittel nach ihrer Zulassung praktisch ab. Die Koalition glaubt, dass allein die Zulassung einer Pille ausreicht, damit ihr Nutzen für die Patienten belegt ist.Es haben sich Kräfte durchgesetzt, die weniger das Wohl der Kranken und die Stabilität der Kassenbeiträge im Blick haben, sondern mehr die Pharmawirtschaft und den Standortfaktor. Das Wort vom „Gesundheitsmarkt“ als Wachstumsbranche der Zukunft macht die Runde. Eine verhängnisvolle Fehleinschätzung, denn Gesundheit ist keine Ware, Kranke sind keine Kunden und Ärzte keine Zwischenhändler.Mit dem neuen Gesetz wird die Qualität der Medikamentenbehandlung in Deutschland abnehmen. Die Preise der Arzneimittel werden sich nicht an ihrem Wert orientieren können, denn dieser Wert wird gar nicht ermittelt werden. Im Gegenteil: Aussagekräftige Studien durchzuführen – wie in unserem Bluthochdruckbeispiel– wird für die Pharmahersteller zum wirtschaftlichen Risiko. Ein Ziel wird die derzeitige Bundesregierung aber mit dem neuen Gesetz erreichen: Die Arbeitsplätze in der Pharmaindustrie werden sicher bleiben. Das ist gut. Schlecht ist nur, dass die unwissenschaftlichen Zustände, die eine zuverlässige Bewertung der Arzneimittel dem Zufall überlassen, fortbestehen werden. Wenn wir krank werden, werden wir weiterhin in dem chaotischen Versuchsgroßlabor Deutschland Pillen schlucken, ohne zu wissen, ob sie uns nutzen oder schaden.