Versuchslabor für soziale Demontage

Im Gespräch Reinhard Schult zur Erklärung ehemaliger DDR-Oppositioneller zur inhaltlichen Ausrichtung der Hartz-Proteste und deren Ausweitung in den Westen

FREITAG: Was war Ihre Motivation, mit dieser Erklärung zu den Montagsdemonstrationen an die Öffentlichkeit zu treten?
REINHARD SCHULT: Es war der Ärger über die Erklärungen von Politikern, der unterschiedlichsten Parteien aber auch ehemaliger Bürgerrechtler wie Vera Lengsfeld und Joachim Gauck, die den Hartz-Gegnern pauschal das Recht abgesprochen haben, unter dem Label Montagsdemonstrationen an die Öffentlichkeit zu treten. Dem wollten wir entgegen treten. Dabei haben wir die Erklärung bewusst als ehemalige DDR-Oppositionelle verfasst, so wie wir uns auch damals verstanden haben. Wir wollten die DDR verändern und sie nicht in die westlichen Traditionen einfügen. Das aber suggeriert für mich der Begriff Bürgerrechtler, der uns vom Westen übergestülpt wurde. Ich haben unsere Bewegung nie auf den Kampf um Bürgerrechte reduzieren lassen und daher habe ich den Begriff Bürgerrechtler, der mittlerweile weitgehend zum Schimpfwort geworden ist, immer abgelehnt.

Wie beurteilen Sie die Reaktion von Vera Lengsfeld, die Erklärung würde als ideologisches Schutzschild für die PDS dienen?
Von ihr habe ich nichts anderes erwartet als diese denunziatorische Ebene der Auseinandersetzung, auf die ich gerne verzichten kann. Wenn es hingegen Meinungsverschiedenheiten zu einzelnen Passagen unserer Erklärung gibt, sind wir als Unterzeichner zu einer inhaltlichen Auseinandersetzung gerne bereit. Schließlich haben wir lediglich ein erstes vorläufiges Papier verfasst, mit dem wir schnell in die aktuelle Debatte eingreifen wollten. Es wird sicherlich noch einen ausführlicheren Text von uns geben.

Haben die Hartz-Gegner Ihre Erklärung denn schon wahrgenommen?
Sie wurde auf verschiedenen Demonstrationen verteilt und in Berlin, Leipzig und Senftenberg verlesen. Wir werden die Erklärung noch weiter verbreiten und sind auch noch an weiteren Unterschriften von ehemaligen DDR-Oppositionellen sowie von Menschen, die die Ziele unterstützen, interessiert.

Verhindert der starke Bezug der Hartz-Gegner auf die Montagsdemonstrationen nicht eine Westausdehnung der Proteste?
Unter den fast 200 Orten, in denen mittlerweile Montagsdemonstrationen stattfanden, sind auch zahlreiche westdeutsche Städte. Offenbar kann man also auch im Westen mit dem Begriff Montagsdemonstration etwas anfangen "Wir setzen auf Widerstand in Ost und West bei Arbeitslosen und Arbeitenden", haben wir in unserer Erklärung geschrieben. Wir sehen darin die Bedingung für einen Erfolg der Bewegung. Die Erklärung ist speziell an Westgewerkschaftler und Vertrauensleute gerichtet. Wir werden sie auffordern, den Kampf gegen Hartz IV auch aus eigenem Interesse zu unterstützen. Schließlich dient das Gebiet der ehemaligen DDR seit 15 Jahren als Versuchslabor für soziale Demontage. Die Menschen dort werden auf sozialen Gebiet auf ein Niveau heruntergedrückt, das ihre Würde permanent verletzt. Im Westen wird dann nachgezogen.

Könnten Sie sich vorstellen, dass sich ehemalige DDR-Oppositionelle an einer neuen Partei, wie der Wahlalternative beteiligen werden?
Im Moment steht das für mich nicht zur Debatte. Eine neue Parteigründung, bevor sich eine außerparlamentarische Massenbewegung entwickelt hat, scheint mir nicht besonders produktiv.

Sehen Sie nicht die Gefahr, dass davon die Neonazis profitieren könnten, nachdem die NPD bei den Landtagswahlen im Saarland beachtliche Stimmenzugewinne verzeichnet?
Zur Zeit sehe ich die Neonazis noch als Randerscheinung bei den Demonstrationen. Doch die Anti-Hartz-Bewegung muss ein stärkeres inhaltliches Profil bekommen. Ein Nein zu Hartz IV wird auf Dauer nicht ausreichen. Denn selbst wenn das Gesetzespaket gestoppt werden sollte, wird es andere Maßnahmen geben, mit denen die Menschen geschröpft werden sollen. Wir werden also über Alternativen zum Kapitalismus nachdenken müssen. Sonst droht ein Rückfall in den gesellschaftlichen Zerfall und die Barbarei, wovon die Neonazis nur ein Teil sind.

Das Gespräch führte Peter Nowak

Reinhard Schult saß 1989/90 als Vertreter des Neuen Forums am Runden Tisch und bis 1995 für das Neue Forum im Berliner Abgeordnetenhaus.


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