Um die Folgen von Flucht und Vertreibung zu verstehen, braucht man keinen dieser Großväter erlebt zu haben, die zeitlebens ihr Essen verschlangen, als würde ihnen gleich jemand den Teller wegreißen. Zwischen 12 und 14 Millionen durchlitten die Trecks und mussten sich danach als „Rucksackdeutsche“ ganz hinten anstellen. Vielleicht ist dieses Trauma ein Faktor der „German Angst“.
Ohne Frage ist das ein wichtiger Gegenstand. Es fehlt ihm aber der geeignete Rahmen: Seit eh und je monopolisiert eine Organisation das Thema, der es nicht gelingen will, ihren rechten Mief abzustreifen: der „Bund der Vertriebenen“ (BdV).
Zum Beleg der Misere muss man sich nicht an den Tisch der „Landsmannschaften“ setzen, wo zumal die Jugendgruppen alle paar Jahre einen deftigen Nazi-Skandal servieren. Es reicht ein Blick auf die Bundesstiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“, die in Berlin bald das „Zentrum gegen Vertreibungen“ eröffnet. Hier hat der BdV formal keine Mehrheit. Doch gegen ihn geht offenbar wenig. Als verdünnter BdV ist die Stiftung ein Trauerspiel.
Jüngst kam heraus, dass Direktorin Gundula Bavendamm andernorts ihren rechtsextremen Vater ehrenamtlich Akten sortieren ließ. Das ist geschenkt. Nicht aber der Fall Ersan Mondtag. Der Theatermann sollte in einem Film für die Stiftung nicht zeigen, wie Rechtsradikale das Thema instrumentalisieren. Bavendamm wollte solchen Positionen „kein Forum“ bieten. Ging es nicht eher um BdV-Befindlichkeit?
Seit 2008 soll die Stiftung Flucht und Vertreibung als Teil europäischer Geschichte aufbereiten. Doch lange war selbst die Minimalprämisse zu viel. 2010 ließ der Zentralrat der Juden ob eines „revanchistischen“ Tons seinen Stiftungssitz vakant. Der Wissenschaftliche Beraterkreis aus profilierten Experten zerfiel. 2014 wurde Direktor Manfred Kittel geschasst, nachrücken sollte ein BdV-konformer B-Historiker. Es folgten Gezerre und ein peinlicher Rückzieher. Dann kam Bavendamm, die – bis jüngst – ein paar leisere Jahre schaffte.
Derweil wurde das Konzept „weiterentwickelt“. An wichtiger Stelle bleibt es hinter älteren Versionen zurück. 2012 begann der „Kontext“ in den 1920ern, als Deutschland „die Minderheitenfrage im Osten“ dazu benutzte, „Versailles anzufechten und eine Revision der Ostgrenzen zu erreichen“. Dieser Aspekt fehlt nun so explizit. Dabei war das Erleben deutscher Minderheiten als „fünfte Kolonne“ in Polen oder Tschechien zentral für Wünsche nach Homogenisierung. Die aggressiven völkischen Verbände, die diese Nebenaußenpolitik betrieben, mündeten ideell und teils auch persönlich in den BdV. Viele jener heißhungrigen Großväter schreckte das ab.
Seit 2012 hat sich nicht der Forschungsstand verändert, aber das politische Klima. Heute gibt es die AfD. Deren Parteistiftung leitet Erika Steinbach, eine Initiatorin des „Zentrums“. Der BdV spürt weniger Kompromissdruck. Solange dieser Verband die Rahmung des Themas mitbestimmt, muss man froh sein, wenn das „Zentrum“ keine Skandale macht. Aber das kann doch nicht der Maßstab sein.
Zu messen ist die Stiftung am dritten Namensbestandteil. Wie aber geht „Versöhnung“? Statt die Gefühle des BdV zu hätscheln, müsste die Stiftung eine breitere Befassung etwa mit tschechischer oder polnischer Geschichte fördern. Wer weiß denn hierzulande von den Polnischen Teilungen oder der Germanisierungspolitik bereits des Deutschen Kaiserreichs?
Nicht zuletzt aber wäre zu fragen, wofür eigentlich der BdV bis heute mit Millionen gefördert wird. Seine einstige Integrationsfunktion ist ja schon lange obsolet. Wer aber braucht eine Kulturarbeit, die nach wie vor in anachronistischen Trachtenschauen der Sudeten oder Banater sinnfällig wird? Eine Distanzierung des Staats von diesem Verband ist überfällig. Zumindest in Richtung Warschau wäre das kaum ein geringerer Entspannungsimpuls als ein etwaiger Stopp von Nord Stream 2.
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