Vertreibung der bösen Geister

Kommentar Der Tag der deutschen Einheit hat gezeigt, daß Deutschland ganz sicher nicht mehr das ist, was es einmal war. Kein anderer Staat feiert so offen seine Zivilität

In nationalen Stereotypen steckt immer ein Kern von Wahrheit – so auch die zur Genüge bekannten von Deutsch- land und den Deutschen. Aber Stereotypen ­können auch ­gegenstandslos werden, wenn die Wahrheitskerne geschmolzen sind. Zum Beispiel die von deutscher ­Autoritätshörigkeit und verinnerlichtem Militarismus. Als Präsident George Bush vor sechs Jahren die Deutschen ein Volk von Pazifisten nannte, weil sie beim Irak-Krieg nicht zur „Koalition der Willigen“ ­gehören wollten, stellte er jahrelanger pazifistischer Aufklärung durch die Friedensbewegung das schönste Zeugnis aus. „Die Deutschen“ sind nicht mehr, was sie einmal waren. Der 3. Oktober 2009 hat gezeigt, dass ein solch optimistisches Urteil mehr Wahrheitsgehalt besitzt, als es Skeptikern erscheinen mag. Warum?

In diesen Tagen ging durch die Weltmedien, wie die Volksrepublik China ihren 60. Geburtstag feierte – mit einer Militärparade, die in ihren Dimen­sionen kaum je ihresgleichen hatte. Italien beging den Geburtstag der Republik wie der Verfassung am 2. Juni gleichsam mit einem Militärspektakel. Frankreich zelebrierte seinen Staatsfeiertag, den 14. Juli, wie immer mit aufwändiger Waffenschau. Und so sieht es fast überall in der modernen Staatenwelt aus .

Ist es unter diesem Blickwinkel nicht ermutigend, wenn der Tag der Deutschen Einheit ohne auch nur die Spur militärisch auftrumpfenden Nationalbewusstseins über die Bühne ging? Wenn ein dreitägiges Schauspiel mit zwei Riesen der Hauptstadt einen Hauch des Magischen verlieh und nicht wenigen Besuchern Tränen des Angerührtseins entlockte, weil sie die wundersam konstruierten und zum Leben erweckten Märchenfiguren an ihre eigenen kindlichen Träume zu erinnern schienen? Es dürfte schwer sein, einen anderen Staat zu finden, der seine politische Identität durch ein derartiges Schauspiel der Zivilität repräsentieren lässt.

Dass diese friedliche Selbstdarstellung keinen Ausnahmefall, sondern einen qualitativen historischen Mentalitätswandel reflektieren dürfte, könnte der Rückblick auf das Geburtstagsfest zu 60 Jahren Grundgesetz vom 23. Mai am gleichen Ort bestätigen: Auch jener Tag war ausgekommen ohne jede auftrumpfende Selbstgerechtigkeit, ohne Militär und staatliche Gestik und hatte seinen Höhepunkt im gespannten Schweigen einer an die 600.000 Menschen zählenden Menge, die sich Beethovens 9. Sinfonie mit ihrem menschheitsumfassenden ­Appell an Brüderlichkeit und Schwesterlichkeit aus dem ­Geiste der Freude anhörte.

Wenn man sich der historischen Bilder erinnert, die mit dem Brandenburger Tor verbunden sind – Napoleons Einzug als Sieger über Preußen 1806, der Reichsgründungsaufmarsch 1871, der Fackelzug der SA am 30. Januar 1933, der verwüstete Ort voller Kriegsgerät im Mai 1945 und – nur einen Steinwurf entfernt – die letzte Selbstdarstellung der DDR zu ihrem 40. Staatsgeburtstag – dann hat hier, im Jubiläumsjahr 2009, eine Art Exorzismus der bösen Geister der Vergangenheit stattgefunden, von dem wir glauben dürfen, dass er dauerhaft ist, wenn weiter daran gearbeitet wird.


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