Als ein unermüdlicher Erforscher der "Peripherien" Italiens gilt der Schriftsteller Paolo Rumiz, der sich in seinen Büchern mit dem Wandel der kommunistischen Bewegung, der Lega Nord und anderen europäischen Partikularismen, aber auch den Kriegen auf dem Balkan beschäftigt hat. Mit Blick auf die am 13. Mai anberaumten Wahlen, bei denen das Mitte-Rechts-Lager von Ex-Premier Silvio Berlusconi allenthalben als Sieger über die Mitte-Links-Regierung des Ulivo erwartet wird, prophezeit Rumiz einen möglicherweise erheblichen Schub für das Autonomiesyndrom Norditaliens, das gegen die "Zentralmacht" der Republik gerichtet ist. Eine Strömung, die sich mit der Lega in der nächsten Regierungsmehrheit unter Berlusconi wiederfinden könnte.
FREITAG: Für externe Beobachter ist es schwer zu begreifen, was die Lega Nord Umberto Bossis - die Rechte insgesamt - unter "Devolution" verstehen. Warum spielt dieses Schlagwort eine so wichtige Rolle im Wahlkampf?
PAOLO RUMIZ: Wir erleben eine Machtprobe zwischen dem Zentrum und den Regionen. Weil die Regionen schon die direkte Unterstützung der Wähler genießen und ihre Präsidenten den populistischen Konsens suchen, während der römische Palast diese Notwendigkeit nicht spürt. Das provoziert ein Ungleichgewicht - unter bestimmten Aspekten ein dramatisches, besonders wenn es eine politische Differenz zwischen Zentrum und Regionen gibt. Da ein Pilot nicht in Sicht ist, der diese Übergangssituation steuert, ist es leicht vorstellbar, dass der Prozess - um eine Eisenbahnmetapher zu benutzen - entgleisen könnte. In diesem Moment der beschleunigten Globalisierung, die sich überall in Europa Bahn bricht, deren Konsequenzen aber für ein Land wie Italien besonders schwerwiegend sind, da es kaum eine nationale Identität kennt, herrscht die Illusion, dass mit einem Sich-Einschließen in der "Heimat" eine Reihe von Problemen bewältigt werden könnte. Probleme, die der Angst vor der Moderne entspringen.
Es herrscht Kirchturmlogik, kein gemeinsames Gespür der res pubblica: einer starken Republik. Das fehlt, und man wird sehen, was passiert, wenn die rechte Mitte Berlusconis am 13. Mai gewinnt.
Und was meint nun "Devolution"?
Damit ist Dezentralisierung gemeint. Meines Erachtens ein von den Tatsachen schon überholter Begriff, denn wir brauchen keine Dezentralisierung vom Zentrum hin zur Peripherie. Nein, die Peripherie muss ihre Rolle selbst finden. Wenn jetzt vor allem der Norden von der Regierung in Rom die Dezentralisierung als notwendige Bedingung für Selbstbestimmung fordert, erwacht der alte kulturelle Instinkt jedes Italieners, der immer eher Untertan als Bürger war. Also erwartet er von der Zentralregierung, dass sie interveniert. Wenn wir in Italien den Föderalismus verlangen, besteht immer das Risiko, dass der als ein ganz und gar unverantwortlicher Föderalismus verstanden wird. Als ein Föderalismus, der die Lizenz für eine ungezügelte Ausgabenpolitik erteilt, und die könnte zu einer Balkanisierung des Staatshaushalts führen, ein prä-jugoslawisches Szenarium, an das - vermute ich - niemand ernsthaft denken würde. Aber wir sollten nicht vergessen: Der Zerfall Jugoslawiens begann, als die Republiken dort nicht mehr fähig waren, ihre Haushalte in Ordnung zu halten.
Woher kommt in Italien das Bedürfnis nach "Devolution"? War es nicht in der Vergangenheit gerade die Linke, die eine gerechtere Verteilung der Macht zwischen Zentralregierung und Regionen forderte?
Nein, es war die Lega Nord, die als erste in Italien ernsthaft von Föderalismus gesprochen hat, in der Anfangsphase - in der romantischen Phase - als es um die Suche nach der Identität ging. Die Linke hat sich sofort angepasst.
... aber sich dann wieder umorientiert.
In dem Moment, als die Lega Stimmen zu verlieren begann, etwa um 1997/98, glaubte die Linke, das Problem habe aufgehört zu existieren. Folglich sei es nicht mehr notwendig, auf Föderalismus zu dringen. Man hat nicht verstanden, dass das Problem nicht Lega Nord hieß. Es war die soziale, ökonomische Veränderung, der die Lega ihren Aufstieg verdankte. Diese Veränderung braucht einen modernen Föderalismus, der seinerseits freilich eine präventive Erziehung bedingt, denn nach meinem Eindruck sind die Italiener auf einen wirklichen, einen verantwortlichen Föderalismus nicht vorbereitet. Paradoxerweise existiert nichts Italienischeres als die Lega Nord
Welche Gründe sehen Sie dafür?
Vom Föderalismus zu sprechen, hieß einmal, etwas Linkes zu sagen, aber weil die Linke es schließlich unterließ, von Föderalismus zu sprechen, verwandelte der sich nach und nach in ein Thema der Rechten. So wie andere Vokabeln von rechts usurpiert wurden, man denke an "Europa", "Heimat", "Identität", "Respekt vor der Landschaft". Das ist eine Form von lexikalischer Luftverschmutzung. Man hat das in Österreich beobachten können. Das Vokabular, das Haider auf seinen Versammlungen benutzt, stammt nicht aus dem Wortschatz des Nazismus. Es handelt es sich um ein linkes Vokabular. Etwa: "Solidarität" oder "Umweltschutz", der natürlich von rechts ganz anders verstanden wird, nämlich als Schutz des ethnischen Wohnraums. Die Rechte hat die linken Begriffe der eigenen Syntax angepasst, dem eigenen politischen Gedanken. Wir erleben die Enteignung eines kompletten Wortschatzes, der ein linker Wortschatz war - absolut unglaublich.
Was ist unter den Veränderungen im Norditalien zu verstehen, von denen Sie gerade sprachen?
Dort ist ein neuer Mensch geboren worden, der Züge eines völlig anderen Charakters trägt. In mancher Hinsicht erinnert er an den subalpinen Menschen, den Bayern, den Kärntner, den Schweizer, aber in Wirklichkeit besitzt er die typisch italienischen Eigenschaften, die sich der bekannten katholischen Erbschaft verdanken. Diesem neuen Menschen ist innerhalb einer Generation gelungen, was Generationen vor ihm nicht vermochten: Er ist nicht mehr gezwungen zu emigrieren, wie seine Eltern und Großeltern - er braucht statt dessen Immigranten, um die Wirtschaft am Laufen zu halten. Folglich lebt er in einem Wirbelsturm, der um Fragen nach Werten und Identität kreist. Auf der einen Seite ist er hochmütig, weil er weiß, dass er sich selbst gemacht hat. Andererseits fühlt er sich ungeschützt vor der Herausforderung der Globalisierung. Gefühle von Selbstsicherheit und großer Unsicherheit existieren in derselben Person und erzeugen einen mentalen Kurzschluss, der schwer zu kontrollieren ist. In bestimmten Momenten kann er in Aggressivität umschlagen, in rassistischen Fremdenhass, in Fundamentalismus, der sich in nostalgischem Katholizismus äußert.
Wendet sich Italien also einem übertriebenen Lokalpatriotismus zu, ohne eine zivile Erfahrung der nationalen Zugehörigkeit?
Gewiss. Ich glaube, dass die Rückkehr zum Lokalpatriotismus nichts anderes ist als die Wiederbelebung von etwas, das während der gesamten italienischen Geschichte lebendig war. Auch zu Zeiten des Faschismus, als es den Versuch gab, eine nationale Mythologie zu konstruieren, haben die Italiener das niemals wirklich ernst genommen. Sie haben diese Mythologie des Römertums als Operette erlebt.
Ich glaube, bis heute erleben wir im Homo italicus diesen Sinn für seine provinzielle Herkunft, seine Kirchturmmentalität, seine Gegnerschaft zum Staat, die ihn immer sagen lässt: Die Banditenregierung, der Krake. Paradoxerweise existiert nichts Italienischeres als die Lega Nord. Man muss nur ihre Feste auf dem Land betrachten, da hat man einen kruden Vitalismus, der für die italienische Provinz typisch ist. Ich weiß, dass die Legisten es nicht lieben, als Italiener bezeichnet zu werden, aber ich glaube, dass sich Italien mit diesem Gefühl des Vom-Land-Kommens noch mehr identifiziert als mit Spaghetti oder Pizza.
Sie haben wegen der Gefahren eines ethnischen Föderalismus Italien und Ex-Jugoslawien verglichen. Können Sie das näher erklären?
Ich glaube in der Tat, dass wir so wenig von der jugoslawischen Frage verstanden haben, weil wir fürchteten, uns in ihr wiederzuerkennen. Es ist bequem zu denken, Jugoslawien sei ein jugoslawisches Problem, Österreich ein österreichisches, die Mafia ein sizilianisches, der Rinderwahnsinn ein englisches. Aber in dem Augenblick, da wir meinen, dass die Probleme nur von außen kommen, haben wir schon verloren. Die große Lehre aus der Balkan-Erfahrung ist genau die: Wenn du glaubst, du seiest gegen das Böse ethnisch immun, hat es dir schon ein Schnippchen geschlagen. Und so ist es auch mit dem Rassismus. Wenn du glaubst, dass der Rassismus nur die anderen betrifft, bist du schon ein Rassist. Deine Annahme der Unschuld wiegt dich in der falschen Sicherheit, dass der Teufel nicht schon innerhalb der Gesellschaft seinen Platz hat, sondern der berühmte schwarze Mann ist, der von draußen eindringt. Das ist ein Notausgang für die schwachen Identitäten dieser globalen Welt, und wir könnten sie bei vielen suchen. Denn wo alle glauben, sie seien die einzigen, die anders sind - die Belgier, die Österreicher, die Norditaliener - funktioniert bei allen derselbe Mechanismus, derselbe Instinkt der Bewahrung, der dazu zwingt, einen Feind zu suchen, um einen Schleichweg für die Identität zu finden, die wir ansonsten verloren haben.
Wird sich unter diesen Umständen etwas am byzantinischen Stil italienischer Politik ändern?
Sollte Berlusconi die Wahlen gewinnen, hätten die Regionen im Norden, in denen er stark ist, weniger Grund, zu protestieren und Forderungen zu stellen. Sollte die Linke gewinnen, was derzeit unwahrscheinlich ist, droht uns das Gegenteil, will sagen, dass in den Regionen der linken Mitte, die bisher aus Gehorsam gegenüber einer ihnen nahen Zentralregierung still geblieben sind, die föderalistische - die antizentralistische - Seele erwacht. Was den Byzantinismus angeht, glaube ich, dass sich schwerlich etwas ändern wird. Ich erkenne eher das große Revival der alten politischen Klasse. Nicht nur bei der rechten Mitte, zum Teil auch bei der Linken. Es gibt wieder eine Anpassung an die beiden Pole in diesem Zwei-Blöcke-System all italiana.
Das Gespräch führten Milvia Spadi und Jan Koneffke.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.