Verwöhnte Westgören (1)

"Warst Du nicht fett und rosig - warst Du nicht glücklich?" (Die Sterne) ...

"Warst Du nicht fett und rosig -
warst Du nicht glücklich?" (Die Sterne)

Ja, natürlich war sie glücklich. Ihr ganzes Leben lang war Sophie glücklich. Sie hatte eine glückliche Kindheit, eine glückliche Jugend und brachte gute Noten nach Hause. Und Streit mit den Eltern oder ein bisschen Liebeskummer, das gehörte ja irgendwie dazu.

Manche ihrer Mitschüler hatten schon früh ans Geldverdienen gedacht und nach dem Abi BWL, Jura oder Zahnmedizin studiert. Sophie wollte lieber etwas studieren, was sie persönlich weiterbringt. Geld war nicht so wichtig, es war sowieso da. Sophie entschied sich für Kunstgeschichte.

Nebenher hat sie sich hoch qualifiziert - durch interessante Praktika, Auslandssemester und eine außergewöhnliche Freizeitgestaltung. Nie wurden ihr Steine in den Weg gelegt, sie sollte ihren Weg machen und das tat sie auch. Der Platz in der Loge schien ihr sicher. Bis sie Ende zwanzig war, das Studium beendet hatte und statt eines gut bezahlten Jobs plötzlich die Leere winkte.

Jetzt sitzt Sophie da, in der Krise, wie der Rest des Landes. Sie begreift nicht, warum auch sie dazu gehört, bei ihr lief doch immer alles perfekt. Sie war doch anders, etwas Besonderes und mit einer positiven Lebenseinstellung gesegnet. Jetzt ist die Mittelstands-Seifenblase geplatzt und Sophie beklagt sich über diese unfaire Welt. Beim Milchkaffeetrinken mit einer Freundin spricht sie sogar von Existenzängsten. Um sie herum tut es ihnen eine ganze Generation von verwöhnten Westgören gleich.

Sophies Eltern machen sich langsam Sorgen, das erste Mal im Leben ihrer Tochter. Sie sagten ihr, dass es nichts bringe zu Hause zu sitzen und sich selbst zu bedauern. Seit Kurzem hat Sophie ein neues Hobby: Den ganzen Tag fährt sie mit öffentlichen Verkehrsmitteln durch die Stadt und bedauert nun in aller Stille andere Menschen. Diese armen Kreaturen, die nach Alkohol riechen, vor sich hin plappern oder von ihren unqualifizierten Vollzeit-Jobs nach Hause ins Wohnsilo fahren. Dieser ausdauernde Elendstourismus holt Sophie zumindest für ein paar Stunden täglich aus dem Selbstmitleid heraus.

Eine ganz besonders ergiebige Bevölkerungsgruppe für das Ego-Aufbauprogramm sind Teenager. Sie nähren den Boden, auf dem die Hoffnung auf das Beste gedeiht, doch noch einmal zu den Gewinnern zu gehören. Diese Opfer von schlechter Bildungspolitik, zu vielen Fernsehkanälen und überforderten Eltern! Diese alleingelassenen Konsumopfer von heute können nichts mehr, das hat Pisa gezeigt. Sie können nicht lesen, nicht schreiben, geschweige denn den Sinn von einfachen Texten verstehen. Außerdem werden es immer weniger, die junge Generation stirbt aus. Die demographische Altersspirale wird sich irgendwann einmal zu Gunsten der heute frustrierten Endzwanziger drehen! Spätestens in zwanzig Jahren wird Sophie bekommen, was ihr immer versprochen wurde - einen gut bezahlten Prestigejob. Und für eine kleine Weile unterbricht Sophie ihr Gejammer, streicht sich ein bisschen von der Lachscreme aufs Biobrot, streitet am Telefon mit dem Liebsten und ist wieder glücklich, wie früher.

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Geschrieben von

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden