Very british

Europäisches Sozialforum in London An Zugkraft verloren?

"Und dann wollen wir uns noch bei all jenen bedanken, die aus Europa angereist waren, um am Londoner Sozialforum teilzunehmen." Diese Schlussbemerkung der Organisatoren traf die Sache im Kern: Das dritte Europäische Sozialforum (ESF) war insgesamt betrachtet eine sehr britische Angelegenheit. Das demonstrierte etwa eine halbe Hundertschaft reichlich durchgeknallter, vorwiegend britischer Trotzkisten, die ein Forum sprengten, das zum Kampf gegen die Okkupation des Irak mobilisieren sollte. Der auf dem Podium sitzende Vertreter einer irakischen Gewerkschaft sei ein "Lakai des Imperialismus" und habe "Blut an den Händen", riefen sie. Den Beweis dafür blieben die Störer freilich schuldig und ignorierten lautstark den Wunsch der über tausend Anwesenden, die sich mit großer Mehrheit für eine Debatte aussprachen. Sie zogen erst davon, nachdem die Veranstalter das Plenum für beendet erklärt hatten - und freuten sich über ihren Erfolg. Eine wichtige Schlacht war geschlagen, der Feind besiegt. So ist das immer wieder: In Ermangelung eines Winterpalais stürmt ein Teil der Linken mitunter auch linke Veranstaltungen.

"Very british" und kaum im Sinne eines Forums, das vor allem der grenzüberschreitenden Verständigung dienen sollte, waren auch die oft in rasendem Tempo vorgetragenen, teils formelhaften Reden der britischen Politprofis, die viele Dolmetscher ratlos verstummen ließen. Wer kein Englisch kann, ist selber schuld, oder? Auch dass bei der Planung des ESF "keine Transparenz" vorhanden war (dies kritisierten selbst Greenpeace und Oxfam), und Sponsoren wie Londons Bürgermeister Ken Livingstone (seine Verwaltung schoss 650.000 Euro zu) sowie einige Gewerkschaften über Gebühr Einfluss nahmen, kam nicht von ungefähr - ein Teil der britischen Linken dominiert gern die Debatte, wenn sich die Möglichkeit dazu bietet.

Allzu oft deklamierten die Redner - nicht nur die britischen - längst Bekanntes gegen Krieg, Privatisierung und Umweltzerstörung, allzu selten analysierten sie die Schwachstellen des neoliberalen Gegners. Wie gewinnen wir die Bevölkerung, wo und wie verunsichern wir Aktionäre, an welchen Punkten können wir Regierungen zum Einlenken zwingen? Und wie könnte das nächste ESF inhaltlich angereichert werden, ohne dass es seine Vielfalt, seine identitätsstiftende Mission verliert? Die Begeisterung für eine "andere Welt" ist immer noch vorhanden, das hat London gezeigt. Und das erkennen auch immer mehr Gewerkschaften. Es war kein Zufall, dass Unison und Verdi, die größten Gewerkschaften in Britannien und Deutschland, das ESF wählten, um ihren Kooperationswillen kundzutun. Sie wollen künftig mit den sozialen Bewegungen gegen multinationale Konzerne vorgehen und Streikaktionen koordinieren - das hat es bisher so nicht gegeben.

Rund 25.000 Menschen (vorwiegend Jugendliche) aus über 70 Ländern waren in London - an der Abschlussdemonstration des Sozialforums beteiligten sich nach Schätzung des Guardian bis zu 70.000 Leute. Damit lag die Zahl der Teilnehmer unter der bisheriger Sozialforen in Florenz (2002) und Paris (2003). Verliert die Idee eines grenzüberschreitenden Forums an Zugkraft? Nicht unbedingt - beispielsweise dann nicht, wenn der französische Vorschlag eines Netzes von Gats freien Zonen auf Gemeinde-Ebene auch über Frankreich hinaus um sich greift (Gats ist das Kürzel für die von der WTO geplante Liberalisierung fast aller Dienstleistungen). Und wenn es den Bewegungen gelingt, eine breite Opposition gegen die von der EU-Kommission verabschiedete Dienstleistungsrichtlinie auf die Beine zu stellen, mit der praktisch alle nationalstaatlichen Arbeits-, Sozial-, Steuer- und Umweltgesetze im Dienstleistungssektor ausgehebelt werden können.

Gegen diese EU-Richtlinie wollen die Bewegungen im November demonstrieren. Weitere Termine stehen gleichfalls fest: November 2004 (internationale Aktionswoche gegen die israelische Mauer), im Februar 2005 (Aktionen gegen den NATO-Gipfel in Nizza), im März (Proteste gegen die Besetzung des Irak), im April (Aktionstag gegen Rassismus und die Festung Europa) und im Juli (Aktionen gegen den G-8-Gipfel in Schottland). Auf dem nächsten Europäischen Sozialforum 2006 in Athen soll vieles anders, möglicherweise besser werden: Vielleicht finden dann auch die südost- und osteuropäischen Partner etwas mehr Gehör.


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