Mein Vater entstammte dem durch den Roman Ernst Glaesers berühmt gewordenen „Jahrgang 1902“. Er wuchs in einem protestantischen Pfarrhaus auf. Sein Vater repräsentierte als Pastor diese Gesellschaft und den Kaiser. Die Arbeiter hängten, um ihn zu provozieren, am 1. Mai eine rote Fahne in die Linde vor dem Pfarrhaus, die er durch den Küster entfernen ließ. Da ein Mensch seine Prägung in Kindheit und Jugend erfährt und sich in seinen Erziehungspraktiken in der Regel von den damals verinnerlichten Prinzipien leiten lässt, fiel der lange Schatten des Wilhelminismus auch noch auf meine und meiner Geschwister Kindheit.
Es wurde gespart, nicht aus ökonomischer Not, sondern aus Prinzip. Wehe, es brannte ein überflüssiges Licht! Der
icht! Der Teller wurde abgegessen, unter allen Umständen. Einer meiner Brüder saß oft stundenlang vor seinem Teller, auf dem spelzige Bohnen und ein Salzhering lagen, die er partout nicht herunterbrachte. Nichts wurde weggeworfen, nichts kam um. Sogar das Badewasser, in das nacheinander die ganze Familie, ohne Seife zu verwenden, gestiegen war, wurde am Schluss zum Gießen in den Garten getragen. Essensreste wurden gesammelt und irgendwann zu einem Auflauf oder einem Eintopf verarbeitet. So etwas wie Verfallsdaten war unbekannt, Ekelschranken wurden nicht akzeptiert: „Die Suppe hat einen kleinen Stich“, hieß es, und sie sei durchaus noch genießbar. Keine Zwetschge, kein Apfel, keine Sauerkirsche blieb am Baum hängen. Das Fallobst wurde aufgesammelt und zu Kompott und Marmelade verarbeitet. Die Schuhe waren von einem der Kinder jeden Abend zu säubern und einzucremen. Sie wurden gelegentlich zur Schusterei gebracht, wo es nach Leim und getragenen Schuhen roch. Nägel wurden aus dem Holz gezogen und gerade geklopft. Was irgend noch repariert werden konnte, wurde repariert. Strümpfe wurden endlos gestopft, Hosen und Hemden geflickt. Über das äußerst spärlich bemessene Taschengeld musste penibel Buch geführt werden. Es durfte nicht für „nutzlose Dinge“ ausgegeben werden. Einmal im Monat bekam man vom Vorstadtfriseur einen „Kochpottschnitt“ verpasst. An Weihnachten wurde das Geschenkpapier glatt gestrichen, die Paketschnüre aufgerollt und fürs nächste Jahr aufbewahrt. Auf der Toilette hing in Stücke gerissenes und auf eine Schnur gefädeltes Zeitungspapier. Nur wenn Besuch erwartet wurde, gab es richtiges Toilettenpapier. Butter gab es nur zum Honigbrot, ein Ei nur am Sonntag. Zu ganz besonderen Anlässen stieg mein Vater in den Keller und holte eine Flasche Spätlese von der Mosel herauf. Das galt als kleine Ausschweifung.Die Liste der Praktiken und Rituale der Sparsamkeit wäre endlos verlängerbar. Wir Kinder litten unter dieser Mangelwirtschaft, zumal nicht nur an materiellen Dingen gespart wurde, sondern auch an Gefühlen. Gesellschaftlich wehte inzwischen ein anderer Wind und fuhr uns bei unserer Auflehnung mächtig in die Segel. Es waren zunächst Beweggründe unterhalb des Kopfes und der politischen Programmatik, die mich zur Schülerbewegung trieben, eine Art dicke, fette, frei flottierende Sehnsucht nach etwas anderem, jenseits eines Elternhauses, das mich einengte und ins Korsett zwängte. Ich begann zu lesen, und langsam fand mein diffuses Unbehagen seine Begriffe. Ich lernte, meine persönlichen Lebensumstände im Kontext gesellschaftlicher und geschichtlicher Bedingungen zu interpretieren, im Individuellen meiner Misere das Allgemeine zu entdecken. Wir wissen, wie es endete: Die 68er-Bewegung scheiterte mit ihren hochgesteckten politischen Zielsetzungen und konnte als im Kern studentische Bewegung das Ganze der Gesellschaft nicht treffen. Das, was Henri Lefebvre „Abdrift der Geschichte“ genannt hat, sorgte dafür, dass eine schlechte Welt von einer schlechteren abgelöst wurde. Die kapitalistische Gesellschaft hat sich dieser oppositionellen Bewegung bedient, um sich auf eine neue Stufe zu heben und ihrem Begriff adäquat zu werden.Der späte Kapitalismus ist auf den Massenabsatz von Waren angewiesen und muss sich deswegen von den klassischen bürgerlichen Tugenden wie Sparsamkeit und Verzicht verabschieden. „Jetzt kaufen – später zahlen“, propagierten die Kaufhäuser und legten damit die Axt an die puritanische Moral. Würden sich Massen von Menschen heute noch an den Maximen meines Vaters orientieren, der Kapitalismus bräche nach ein paar Wochen zusammen. Wäre diese Lebens- und Existenzform nicht so extrem lustfeindlich, man könnte sie als antikapitalistische und umweltfreundliche Strategie propagieren. Womöglich zwingen uns die auf uns zukommenden Krisen noch früh genug zu einer Rückkehr zu den alten Tugenden.Besser wäre es, wir kämen aus freien Stücken und aufgrund vernünftiger Überlegungen dazu, uns in gewissen Dingen einzuschränken. „Man verliert nicht immer, wenn man entbehrt“, wusste schon Goethe. Auf was könnte man nicht alles verzichten, wenn der Verlust an materiellen Dingen durch ein Mehr an Mit- und Zwischenmenschlichkeit kompensiert würde? Kapitalismus funktioniert ja nur so lange, wie wir das Habenwollen als Ersatzbefriedigung für all die Sachen akzeptieren, die wir uns eigentlich wünschen: lebendige Gemeinschaft, sinnvolle Tätigkeit und die Gelegenheit, uns und unsere Fähigkeiten zu entwickeln. Wenn der gewissermaßen alteuropäische Weg, über vernünftige Einsicht zu einer Einschränkung des Energie- und Ressourcenverbrauchs zu kommen, nicht funktioniert, wird es auf lange Sicht auf die Übernahme der chinesischen Methode digitaler Verhaltenssteuerung hinauslaufen. Man wird – analog zu den Rauchmeldern – Thermostate in die Wohnungen einbauen, die bei Überschreitung einer festgesetzten Höchsttemperatur die Temperatur automatisch runterregeln und einen Punktabzug vom Sozialkredit-Konto einleiten. Wenn die Innensteuerung über verinnerlichte Normen versagt, dann wird in einer Art von psychohistorischer Regression Außensteuerung wieder an ihre Stelle treten.Angesichts der Leidenschaftlichkeit, mit der hierzulande über einen möglichen Gasmangel im kommenden Winter debattiert wird, und der Penetranz, mit der Kanzler Olaf Scholz sein Mantra „You’ll never walk alone“verkündet, kann man sich fragen: Was wäre denn, wenn hinter den ständigen Warnungen, dass wir im kommenden Winter werden frieren müssen, in Wahrheit eine Sehnsucht verborgen läge? Nicht nach dem physischen Frieren, sondern nach einer Gemeinschaft, in der sich das Frieren besser ertragen lässt. Eine extreme Mangellage soll all jene Tugenden wiederbeleben, die uns in Zeiten unablässig wachsenden Konsums abhandengekommen sind. Der Konsumismus hat die Utopie hervorgebracht, auf das Verzichten verzichten zu können. War der erwünschte Sozialcharakter des 19. Jahrhunderts der asketisch produzierende Knecht, so verlangte der Kapitalismus ab der Mitte des 20. Jahrhunderts nach dem süchtigen Konsumenten. Wer trotz der gewandelten Anforderungsstrukturen an alten Haltungen festhielt, wurde zum seltsamen Kauz, zum Sonderling. Verzicht war „out“ und wurde beinahe zu einer Form von Sabotage.Wie die StachelschweineGegen die Fröste der Individualisierung wollen wir uns nun am Lagerfeuer einer von der Not gestifteten Gemeinschaft versammeln. Die Jahrzehnte eines konsumistischen Nihilismus haben historische gewachsene Mentalitäten gegenseitiger Hilfe und die entsprechenden solidarischen Wertemuster geschleift, die nun gewissermaßen synthetisch wiederbelebt werden sollen. Was waren das noch für Zeiten, als die Menschen sich füreinander interessierten, rufen wir aus. Ich fürchte allerdings, es würde uns so gehen wie Schopenhauers frierenden Stachelschweinen. Die zeitgenössischen Elementarteilchen drängen sich aneinander und verletzen sich dabei so lange, bis sie es aufgeben und vollends zu berührungslosen Monaden erstarren. Werte und Haltungen, die von der gesellschaftlichen Realität nicht mehr gestützt werden, sterben ab und sind, wenn man sie irgendwann wieder benötigt, nicht mehr wiederzubeleben. Konservative Kräfte beschwören die Normen in ihren Sonntagsreden, die ihr eigener Zynismus wochentags zerrieben hat. Diese Gesellschaft verhält sich moralischen Traditionsbeständen gegenüber genauso wie gegenüber natürlichen Ressourcen: Sie vernutzt sie, ohne sie innerhalb ihrer Logik nachproduzieren zu können. In ihrem Wachstumsfetischismus sägt sie bedenkenlos Äste ab, auf denen sie selbst sitzt.
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