Vibrationen in Friedrichshain

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Gestern verließ ich aus privatem Protest nicht das Haus, obwohl ich ein recht kommunikatives Bedürfnis hatte. Stattdessen schoss ich im Internet Moorhühner ab, um einmal in meinem Leben festzustellen, wie sich die Leute in den Büros und Ämtern die Zeit vertreiben. Immerhin freue ich mich darüber, dass das latente Gewaltpotenzial auf eine solche Weise kanalisiert wird.

Jetzt laufe ich die Frankfurter Allee entlang, mit 30 Bibelzitaten im Kopf. Kein Mensch ist unterwegs, der mich aus seinem Mund ausspeien möchte, so wie es im Neuen Testament geschildert wurde. Auch kein Mühlstein wird mir um den Hals gelegt, möglicherweise liegt das an der Fassadenwärme, aber nein, die wie von großen Poren übergossenen Vorderfronten strahlen keine Wärme aus. Wärme als Handelsprodukt, schießt mir durch den Kopf, weil ich von Geschäften umringt bin, von Einzelhandelsagonie, die überall wuchert und grassiert, der ultimative Tod im Leben, trotz der anerzogenen Konsumbereitschaft und Genussfähigkeit, weil man, falls die Freunde sich weigern, sich auch mal selbst beschenken muss. Im Grunde sollte man das Leben als Geschenk betrachten, auch im Jahre 2000, während dieses trüben verkorksten Sommers, aber ich sehe vor allem betrogene, enttäuschte Feierabendgesichter. Momentan ist es so, dass die Leute bei jedem harmlosen Lichteinfall halb nackt auf der Straße herumlaufen. Minimalgeschenke der Natur werden bereitwillig angenommen, sogar eine Angestellte der Bank bedient mich mit leicht entblößtem Busen, da sie, wie die Bank sich in ihrer Eigenwerbung beschreibt, mehr als ein Lächeln bieten möchte.

Ein Gedicht von August von Platen geht mir durch den Kopf. Wer die Schönheit angeschaut mit Augen, ist dem Tode schon anheimgegeben. Leider sehe ich keine Schönheit um mich herum. Nur Tristesse und traurige Gesichter. Wahrscheinlich findet die Schönheit nur im Tod ihre wahre Vollendung. Völlig in Gedanken versunken, pralle ich fast mit einem Mann zusammen, Typus Jungunternehmer oder Parvenü, der mit einem siegesgewissen Lächeln und einer ganz in Pepita eingehüllten Mode-Frau die Straße abläuft. Wir befinden uns ja in der Frankfurter Allee, und vielleicht denkt der Mann mit dem routinierten Auftreten eines Geschäftsmannes gerade an die Frankfurter Börse.

Auf der anderen Straßenseite steht ein armer Teufel vor einem Dessous-Laden, um vielleicht für seine Gattin Reizwäsche einzukaufen, damit dem langweiligen Eheleben etwas Würze verliehen wird. Ich blicke in das Schaufenster der Welt. Jeder möchte ja ein Stück Welt erhaschen.

Auch an meiner Imbiss-Bude geht es beinahe kosmopolitisch zu, neben mir steht ein fein gekleideter Amerikaner, der allerdings seine Mini-Pizza in Stücke reißt und die kleinen Portionen dann gierig in sich hinein schaufelt, als gelte es keine Zeit zu verlieren für den nächsten Geschäftstermin. Autos schießen an uns vorbei, in eine flüchtige Helligkeit, in eine trügerische Weite, reflexartig denke ich an den neuen Auto-Kanzler - hurra, wir starten in eine neueZukunft! -, aber mir fallen lediglich die Bilder von Van Gogh ein, bei denen die Wege und Strecken in eine Leere münden. Gemütlich meine Riesenbockwurst vertilgend, bemerke ich, wie der im Zivilisationsdress steckende Amerikaner sich nach hastigem Verschlingen den Daumen abschleckt. Während ich ihn weiter beobachte, muss ich an eine Buchverkäuferin denken, bei der ich mich als Jugendlicher über Nietzsches Wille zur Macht erkundigte. Die gute Frau verstand leider »Wilde an die Macht«, und es hätte mich nicht verwundert, hätte sie »Killen am Bach« gesagt, was immerhin einen hervorragenden Bestseller-Titel abgäbe. Nun die Zivilisation ist vorangeschritten, wir spüren es täglich. Hurra, wir gehen einer neuen Zeit entgegen,und das mit Siebenmeilenstiefeln. Wenn ich die hätte, wäre ich jetzt schon in der Karl-Marx-Allee, in diesem heimlichen, so genannten Pracht-Boulevard, wo fast alles unter Denkmalschutz steht, bloß sehe ich dort kein wandelndes Denkmal, keine Gestalten mit einem Privatmythos oder Personen, die man in zwanzig Jahren als legendär bezeichnen könnte. Bestenfalls sind Leute unterwegs, die den Eindruck erwecken, als würden sie sich darauf freuen, an einem noch aufregenderem Computerspiel als dem Moorhuhn-Turnier teilzunehmen. Am Frankfurter Tor liegt ein Mann auf dem Gehweg, wie zum Hohn tritt die Sonne heraus und taucht ihn in gleißendes Licht. Manche Vorüberziehende empfinden Abscheu, andere amüsieren sich über einen vermeintlichen Penner, der vielleicht gar keiner ist.

Vor einer Galerie stehend, betrachte ich ein abstraktes Bild mit einem exotisch angehauchten Phallus-Symbol. Sogleich muss ich an eine ehemalige Freundin denken, die fortwährend von Penissen redete und diese auch auf die Leinwände warf, die überall in ihrer Wohnung herumhingen, sogar auf der bunt bemalten Toilette. Even nice people get syphilis.

Ich gehe weiter, um nicht mehr an Erotik zu denken. Die Leute, die momentan in Fried richshain umherschlendern oder ihren zum Teil abenteuerlichen Geschäften nachgehen, sehen nicht gerade aus, als hätten sie gestern wenigstens Blümchensex gehabt.

Jetzt stehe ich mitten in der Warschauer Straße und betrachte das matte Grün des Mittelstreifens. Plötzlich legt sich Frieden über mich. Ein älterer Mann reißt kleine Stücke von seinem Börek ab und füttert die Tauben. Endlich ist es richtig hell, und mir ist es, als prasselten tausend Sonnenstrahlen in mein Inneres, gleich sanften Vibrationen. Selbst die Tram gleitet friedlich dahin und ähnelt einem surrealen Schiff, das in den kosmischen Prozess aufgenommen wurde und die Insassen traumhaft sicher in Richtung Kreuzberg transportiert. Als mich ein unbekannter Türke grundlos anlächelt, weiß ich, dass mir heute, morgen und übermorgen nichts passieren wird. In Gedanken schreibe ich einen mit geistigen Liebkosungen angereicherten Brief an eine Geliebte, die es noch gar nicht gibt.

Wieder laufe ich die Frankfurter Allee entlang, als ich an einer auf Lifestyle getrimmten Einkaufspassage vorbeikomme, weiß ich, dass die Pracht einer Straße, einer Chaussee oder eines Boulevards nur innerlich existiert. In diesem Land gibt es nicht wenige Menschen, die in der Inneren Emigration leben.

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