Viel sinnlose Schönheit

Frankreich In Biarritz lässt sich ein Feuilleton über den Tod schreiben oder begreifen, woran die Grande Nation gerade leidet
Ausgabe 10/2014

Lange hatte ich mich nach dem Klang dieses Ortes gesehnt, nach mondäner Eleganz und nach einem gepflegten, einst von allerlei Prinzessinnen ausgekosteten Weltschmerz an einem unvermittelt an die Felsküste schlagenden Ozean. Nun, da ich in Biarritz ankomme, denke ich als Erstes: Hier ließe sich allenfalls ein Feuilleton über den Tod generieren. Oder man könnte anhand von Biarritz all das herausarbeiten, woran die große französische Nation gerade krankt: Diese Ängstlichkeit und dieser Kleinmut, dieser Rückzug aus jeder Art von historischer Ambition, dieses verzagte Starren auf schlechte Nachrichten, auf Fabriksschließungen und schlechtes Wetter. Demografisch gesund, kulturell unerreicht und ökonomisch längst nicht untergegangen, leidet Frankreich an mieser Laune.

Ich komme im ausgehenden Winter nach Biarritz. Ich spaziere zum Atlantik, an den „royalen“ Strand hinunter. Fast alle Jalousien der hoch aufragenden gelben Résidence-Blöcke sind heruntergelassen. Die erste menschliche Begegnung ist ein Rentner, der mich auf der Strandpromenade in seinem elektrischen Rollstuhl überholt. Auf fast allen Gehwegen gibt es ein säuberlich aufgemaltes Verkehrsleitsystem für Rollstuhlfahrer – blaue Striche im Asphalt zeigen die von Rollstühlen befahrbaren Routen deutlich an.

Es trug sich an diesem spätfeudalen hochbourgeoisen Strand zu, dass die berüchtigten Stürme des Golfs von Biskaya das Bild zum endgültigen Tod der Sowjetunion produzierten. Eines Wintermorgens im Jahr 1996 lag der einstige sowjetische Fischdampfer Frans Hals vor dem distinguierten Palasthotel. Der rostige Riesenkahn hatte nicht einmal seine letzte Reise – von Murmansk zur Verschrottung nach Bilbao – mit Würde bestanden. Das Mutterland des Fortschritts sah mit diesem Schiff älter aus als der in Biarritz renovierte Rest des „Goldenen Zeitalters“ – als das Palasthotel und die daneben hockende russisch-orthodoxe Kirche.

Auf der Plage des Basques irritiert mich der Anblick einer Nonne. Sie verschwindet vollständig, merkwürdig verrenkt, unter ihrer schwarzen Kutte. Plötzlich bekomme ich ihren nackten Fuß zu sehen. Moment, Irrtum, dies ist keine Nonne – eine Surferin zieht sich mithilfe eines Spezialumhangs um. Biarritz im Februar oder März, das sind vor allem gut betuchte französische Rentner. Die Jugend, soweit vorhanden, wird von sehnigen Körpern in schwarzen Ganzkörperhäuten repräsentiert, die ein paar Sekunden auf der Welle reiten und vielleicht noch einen Augenblick längs der Welle, bevor der Atlantik über ihnen zusammenschlägt. Es ist ein kurzer Triumph von sinnloser Schönheit.

Erst bei Einbruch der Dunkelheit merke ich, wie sehr das winterliche Biarritz ein Ort der Alten ist. Das Stadtzentrum ist voll von ihnen, auf den nächtlichen Gehwegen an der Felsküste bin ich aber vollkommen allein. Die Alten sind vorsichtig. Mein Herz klopft von der wilden Schönheit der Winternacht. Die Luft ist mild und trotz eines tosenden Atlantiks fast unbewegt, die gelben Bodenlichter lassen das Geländer und die verknorpelten Bäumchen märchenhaft hervortreten, das nasse Ufergras ist saftig grün, und während Ozean und Horizont zu einer einzigen Finsternis vereint sind, beleuchtet die sich nur langsam verlaufende Gischt die gezackt aus dem Meer ragenden Felsen.

Und plötzlich bin ich auf einem Brücklein, gewiss 20 Meter über dem Meer, dennoch ist das Metallgeländer nass. Ich betaste das Geländer, lecke Salzwasser von den Fingern. Und plötzlich erstrahlt über mir eine Statue. Die Jungfrau Maria, einfach und weiß, auf dem Felsen. Ob das Meerwasser wohl auch noch die Jungfrau über mir benetzt?

Die Statue auf dem Rocher de la Vierge wurde – so lese ich – vor vielen Jahren von geretteten Schiffbrüchigen gestiftet. Heute wird sie von einem eigenen Scheinwerfer beleuchtet. Der Scheinwerfer der Jungfrau wirft etwas Restlicht auf einen düsteren Felsen nebenan. Mit Mühe erkenne ich darauf ein kleines betoniertes Kreuz. Ich kann mir nicht helfen, ich bin gerührt. Hatten die Schiffbrüchigen dort drüben nicht zur Jungfrau gebetet?

Martin Leidenfrost schrieb in dieser Europa-Serie bereits über die Slowakei, Marokko, Moldawien, Belgien und Adscharien

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