So einiges muss die Postmoderne aushalten. Nicht nur die semantische Überdehnung, die ihr angetan wurde – ein Roman kann ebenso postmodern sein wie Design oder Popmusik –, sondern auch die Verantwortung für alle möglichen gesellschaftlichen Debatten wurde auf dem Begriff abgeladen. So sorgte ein Text im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vergangenes Jahr für Häme, in dem es hieß, die postmoderne Theorie wäre verantwortlich für überschießenden moralischen Eifer an den Universitäten. Der Autor sei da wohl einer großen neuen Sache auf der Spur, ätzte Twitter: Die Postmoderne ist ein alter Hut, erstens, und zweitens ohnehin zu vielgestaltig, um überhaupt für irgendetwas zur Rechenschaft gezogen zu werden. Postmodern eben.
Nun sieht es auf den ersten Blick so aus, als wollte der Publizist Daniel-Pascal Zorn so etwas wie eine Geschichte der Postmoderne schreiben. Die Krise des Absoluten erzählt von der Zeit, in der es in der Philosophie noch einmal um alles ging. Die Erzählung hat viele Anfangspunkte. Einer davon ist um 1950, als die französische Philosophie des Poststrukturalismus zur Marke wird. Viel von dem, was später als Postmoderne firmiert, hat mit dem Bildungssystem im Nachkriegsfrankreich zu tun, den treinte glorieuses, den 30 glorreichen Jahren mit Aufschwung und Wohlstand. Die Anzahl junger Menschen über 14, die sich in Schul- oder Hochschulausbildung befinden, versechsfacht sich seit dem Ende des Weltkriegs. Die Universitäten, die bisher für die Bildung der Elite sorgten, sind nun mit Studenten aus dem Proletariat konfrontiert. Das liegt am neuen Wohlstand, aber auch an der Bildungsreform von 1963, die die Akademie für die „Masse des Volkes“ – so der damalige Erziehungsminister – öffnete. Theorie ist nicht mehr nur Philosophie und Philologie. Stattdessen sucht sie fortan nach Anwendung in Gesellschaftswissenschaften und Psychologie, die Figur des öffentlichen Intellektuellen wandelt sich entsprechend.
Viel davon ist auch um den Pariser Mai 1968 gelagert. Man denkt an die graue Uni im Vorort Nanterre, die so zentral für die Unruhen war und wo Figuren wie Jean Baudrillard gelehrt haben. Aber Zorn zeigt, dass es nicht ein entscheidendes Jahr allein gibt, einen Angelpunkt und schon gar nicht einen geografischen Ursprung.
Michel Foucault, Jacques Derrida, Adorno?
Stattdessen fängt er an, romanhaft zu erzählen: von Michel Foucault, der nervös ist vor seiner Aufnahmeprüfung für die Uni, Jacques Derrida, der in Algerien vom Intellektuellenleben in Paris träumt. Von Adorno, der in der Zwischenkriegszeit mit seinem Freund Max in einer eleganten Villa im Taunus lebt, Joachim Ritter, der in Münster lehrt, Heinz von Foerster, der in den USA zu Systemen forscht – was später als Kybernetik bekannt wird. Und vielleicht wird ja auch gerade diese Erzählweise der Vielheit ihres Gegenstands gerecht. Aber berechtigte Frage: Was haben Adorno und von Foerster in der Postmoderne zu suchen? So wie Zorn es versteht, ist das einfach Philosophie – eine Auseinandersetzung mit dem, was davor war, nämlich der Moderne.
Dabei ist das keine Sammelbiografie, die einen historischen Moment einfangen will, wie zum Beispiel Der lange Sommer der Theorie (C. H. Beck 2015) von Philipp Felsch, und auch keine leichtfüßige Nacherzählung wie Simeon Wades Foucault in Kalifornien, das vom LSD-Wochenende des Philosophen handelt. Zorn grenzt seinen Gegenstand zunächst noch zwischen 1950 und 1980 ein, aber es franst aus, und was er hier erzählt, gleicht einer Philosophiegeschichte, nicht einer Geschichte über Philosophen. Sie reicht zurück zu den deutschen Idealisten und den englischen Empiristen, über Nietzsche, Husserl, Heidegger bis in die Pariser Vororte und das koloniale Algerien: Hier ist nichts sauber einsortierbar.
Aber um welches Absolute geht es überhaupt: Anfang, Ursprung oder Prinzip, aber auch höchste Macht und Autorität – am Ende sogar Gott oder der absolute Monarch? Philosophie und Geschichte kennen viele Begriffe dafür. Nun sind diese Denkfiguren aus dem Diskurs verschwunden, vorerst zumindest. Nur sind die Versuche, das Absolute zu verabschieden, oft Bestrebungen, das alte Absolute mit einem neuen zu überbieten, bestes Beispiel: die Französische Revolution im Nachgang der Aufklärung.
Kritik an der Postmoderne
Wann aber ist das alles zum negativen Kampfbegriff geworden? 1979, sagt Zorn, kehrte das Absolute zurück. Ein neuer Papst und ein theokratischer Machthaber im Iran waren da nur die Symptome. Zugleich wurde Kritik an den Postmodernen laut. Für die Ausläufer der Frankfurter Schule – Jürgen Habermas – steht der Feind rechts, und hinter den Postmodernen lauert der Irrationalismus. Für die Nouvelle Philosophie in Frankreich – um Bernard-Henri Lévy – steht der Feind zwar links, aber auch die antilinken Franzosen fürchten den Totalitarismus.
Mittlerweile hat sich der Begriff „Postmoderne“ durch Pro- und Hauptseminare in Feuilleton und Podcasts gebohrt, und schon lange zuvor sind ihre Theorien zur Ware geworden, eine Geschichte, die sich auch als Mediengeschichte erzählen lässt: von der Druckerpresse in der besetzten Altbauwohnung zum erschwinglichen Taschenbuch. So hat es Philipp Felsch gemacht.
Bei der Lektüre von Zorns neuem Buch fragt man sich, ob Philosophie nicht vor allem mit sich selbst beschäftigt ist, was ja auch ihre Kernkompetenz ist. Auch das scheint ein kluger Zug zu sein, denn so schützt sich der Autor abermals vor zeitdiagnostischen Annahmen. Nicht abschließend klären lässt sich nämlich, ob die Postmoderne für Trumps postfaktisches Regime oder Cancel Culture verantwortlich zu machen ist – Fragen, die im Moment gerade eh schon etwas angestaubt wirken.
Info
Die Krise des Absoluten. Was die Postmoderne hätte sein können Daniel-Pascal Zorn Klett-Cotta 2022, 656 S., 38 € (Leseprobe)
Kommentare 12
Die Krise des Absoluten. Wow.
Es soll Menschen geben, die brauchen nichts Absolutes. Denen reicht bereits das Relative. Aber gut und richtig sollte es schon sein.
Ich sehe keine Krise des Absoluten. Höchstens die Diktatur des Absolut Schlechten. Hinter den mühsam geputzten und getünchten Fassaden: nichts als gähnende Leere.
Das Nichts.
Ist das noch Leben - oder kann das weg?
"Hinter den mühsam geputzten und getünchten Fassaden: nichts als gähnende Leere."
Da bist Du mit Zorn durchaus auf einer Linie. Er meint und nimmt Philosophie extrem ernst, sein Stil ist hier gut zu erkennen:
Zur phil.cologne – und warum sie nichts mit Philosophie zu tun hat
Danke für den Lese-Anstoß.
Bislang war ich schon oft mit Zorn unterwegs - meinem eigenen. Jetzt auch vielleicht mit Daniel Zorn.
Klingt so, als lohne sich das Lesen.
Ich bin dann mal weg ...
"Klingt so, als lohne sich das Lesen."
Freut mich, ich sehe das ebenso und habe auch schon was von ihm gelesen.
Ich weiß, dass Warum-Fragen für die Füße sind.
Aber warum nur sind solche Bücher, die das Lesen offenkundig lohnen, so scheißteuer? Soll das Gelesen werden - oder nicht?
Vielleicht fange ich erst mal mit dem 2017er Buch über Demokratie von Zorn an. Könnte auch für das Schreiben hier in der FC Horizonte öffnen - und lernen, Knallköppe zu erkennen.
Ich habe noch Lernbedarf. Unmittelbarkeit und Reflektion konkurrieren desöfteren miteinander.
"Aber warum nur sind solche Bücher, die das Lesen offenkundig lohnen, so scheißteuer? Soll das Gelesen werden - oder nicht?"
Ich finde, dass Bücher gar nicht so teuer sind, wenn man mal bedenkt, dass man sehr lange etwas davon hat und natürlich viel Arbeit drin steckt, von der der Autor oft finanziell wenig hat.
Aber ich weiß natürlich, was Du meinst. Ich habe mir vor wenigen Tagen das Hauptwerk von Zorn (eines der Bücher) zum Geburtstag schenken lassen, der Spaß kostet 56 Euro. (Auf der anderen Seite, Brandom, ein anderer Philosoph, sein neues Buch kostete glaube ich 60 Euro, daran hat er 40 Jahre gearbeitet.)
Ich finde seine "Einführung in die Philosophie" sehr gut, in der er mehr den Stil lehrt und nicht einzelne Richtungen durchhechelt. Sonst habe ich noch sein "Gewalt" Buch, aber ich habe es, aus Mangel an Zeit, noch immer nicht geschafft, über die ersten Seiten hinaus zu kommen.
Auf seiner Website findest Du aber auch weitere Texte, darunter auch über die Postmoderne, Derrida, da kannst Du ja schon mal vorfühlen, ob das was für Dich ist.
Zitat: "Bislang war ich schon oft mit Zorn unterwegs - meinem eigenen."
"Zorn" ist im Gegensatz zur "Wut" nichts Schlechtes, wie die Ausführungen von Georg Schramm zeigen (von Youtube bislang noch nicht gelöscht/zensiert)
https://www.youtube.com/watch?v=6DeCeV_DyZshttps://www.youtube.com/watch?v=6DeCeV_DyZs
Leider gibt es zu wenige zornige Bürger in diesem Land und zu viele autoritätsgläubige Untertanen.
vlt. nehmen sie noch eine prise "john" (zorn) mit - inside the great pyramid bsplw. , - denn leere muß ja nicht schlecht sein, ärgerlich nur, wenn vor ihr fülle vorgetäuscht wird ...
Danke dafür, dass es außer mir noch einen Menschen gibt, der offenbar den Unterschied kennt.
Meine persönliche Erfahrung: Zorn ist gesünder. Wut kehrt oft als Bumerang zurück. Wutbürger sind als Sympathieträger wenig geeignet.
Zorn hingegen ist, wenn er in passender Präsentation dargestellt wird - wenigstens im persönlichen Gesprächen - vermittelbar.
Absolut. Die Leere und das Nichts können nicht schlecht sein.
Ich kenne niemanden, der nach seinem Tod zurückgekommen wäre und sich beklagt hätte ...
Es ist schade, dass ich es verpasst habe, Georg Schramm vor dem Ende seiner Karriere "live" und in echt bzw. hautnah auf der Bühne zu erleben.
Bei Volker Pispers ist mir das noch gelungen, bevor sich dieser verabschiedet hat und in "Rente" gegangen ist. Über drei Stunden politisches Kabarett der Spitzenklasse (inkl. Pause!).
Leute wie Schramm und Pispers gibt es nicht wie Sandkörner am Meer. Man braucht dafür Verstand, Empathie und ein gewisses Talent für die Sprache und diese Kombination gibt es offenkundig nicht so häufig, obwohl es in diesen Zeiten meines Erachtens einen großen Bedarf in der Gesellschaft geben müsste. So verblödet können doch noch nicht alle Bürger in Deutschland sein.
Vielleicht werden viele Kabarettisten und Satiriker auch einfach von der real existierenden Politik eingeholt und überholt.
Bei Schramm teile ich Ihre Begeisterung, bei Pispers nur eingeschränkt.
Ich hatte das große Glück, Schramm live zu sehen. Nach Hildebrandt und Polt habe ich meine 'Großen Drei' aus der Nähe mitbekommen.
Das prägt. Nachhaltig.
Solche Menschen fehlen heute.