Im Finanzdistrikt New Yorks herrschte Alarmzustand. Die Sicherheitsvorkehrungen rund um die Börse wurden verstärkt, die Zahl der Polizisten erhöht. Sie umstellten den Zuccotti-Park mit Metallabsperrgittern.
Den öffentlichen Platz mit Steinbänken und Bäumchen in ordentlichen Vierecken hatte die Stadt einst dem Stahlkonzern US Steel abgetrotzt – im Gegenzug durfte das Unternehmen seinen Büroturm daneben höher bauen. Damals hieß der Platz Liberty Plaza, inzwischen gehört er der Immobilienfirma Brookfield und trägt den Namen von deren Aufsichtsratschef John Zuccotti. Hier errichtete Occupy vor vier Jahren das Hauptquartier des Kampfes für eine gerechtere Welt. Zum Jahrestag fürchtete die Polizei eine neue Protestwelle. Grund genug gäbe es: Die Ungleichheit zwischen dem einen Prozent und allen anderen wächst seit der Belagerung der Wall Street am 17. September 2011 weiter.
Gewachsen ist auch die Angst vor einer neuen, erfolgreicheren Occupy-Bewegung. Einer, die sich nicht damit zufrieden gibt, ein paar Wochen in Schlafsäcken zu nächtigen und tagsüber Flugblätter zu verteilen. Die Protestierer behaupten: Im Kapitalismus sei die Ungleichverteilung systembedingt. Jetzt mühen sich Unternehmensbosse, Politiker und Wirtschaftorganisationen, diesen Eindruck zu widerlegen. „In einem Boot: Wie weniger Ungleichheit allen zugutekommt“ lautet nicht etwa der Slogan auf einem Plakat linker Protestierer, sondern der Titel einer OECD-Studie. Ein zu hoher Einkommensanteil der oberen Zehntausend schade der Wirtschaft, warnt neuerdings auch der IWF.
Doch der Versuch, Ungleichheit von einer Folge in eine Hürde für den Kapitalismus umzudeuten, ist nicht mehr als das: ein Versuch. Und kein besonders überzeugender. Eine gerechtere Verteilung von Einkommen und Vermögen in einer Volkswirtschaft hat grundsätzlich keine Bedeutung für stärkeres Wachstum. Das zeigt zumindest eine Erhebung der Weltbank, die schuldenbeladene Staaten vergleicht. Danach ist die Wirtschaft der fünf Länder mit der größten Ungleichverteilung 2011 bis 2013 fünfmal stärker gewachsen als in den anderen Schuldnerstaaten. Eine andere Studie zeigt: In OECD-Ländern, die ihre Staatsausgaben in den letzten Jahren erhöht haben, ist die Wirtschaft durchschnittlich um 1,3 Prozent geschrumpft. Länder, die ihre Ausgaben gekürzt haben, sind im Schnitt um 0,9 Prozent gewachsen. „Der Zusammenhang zwischen Einkommensungleichheit und langsamerem Wachstum ist ein Mythos“, ätzt der Investmentmanager Matthew Schoenfeld in einem Kommentar für das Wall Street Journal. Der Mann hat recht. Nur anders, als er denkt.
Warum ist es nötig, sich hinter vorgeblichen wirtschaftlichen Vorteilen einer faireren Gesellschaft zu verstecken? Warum ist Moral zur Begründung nicht genug? Sind wir nur bereit, Flüchtlingen zu helfen, wenn sie prima in unseren Arbeitsmarkt passen? Vier Jahre nach Occupy zählt immer noch vor allem anderen, was der Wirtschaft guttut. Deren Primat steht nicht in Frage. Da ist es fast egal, dass zum Jahrestag nur ein paar versprengte Occupy-Fans in den Zuccotti-Park kamen.
Kommentare 4
"Gewachsen ist auch die Angst vor einer neuen, erfolgreicheren Occupy-Bewegung. Einer, die sich nicht damit zufrieden gibt, ein paar Wochen in Schlafsäcken zu nächtigen und tagsüber Flugblätter zu verteilen."
Die Angst ist berechtigt. Weil die erfolgreichen Strategien die Finanzmärkte auch weiterhin dafür sorgen werden, dass das Potential an sozialem Sprengstoff wächst. Direkt in unserer Wohlstandsgesellschaft, aber auch indirekt durch Kriege, die letztlich nur weltweit den Zugang zu Ressourcen, Rohstoffen, Energie und Geld sichern sollen. Aber die Fläche, auf die sich diese Ängste projiziert, Occupy also, ist dem Phänomen um das es geht nicht angemessen. Occupy war eine Graswurzel Bewegung. Als solche war ein Symptom das eine Reaktion auf die bestehenden Verhältnisse darstellt. Die wenig effektive Auswirkung dieser Bewegung war gleichzeitig eine inhaltliche Auseinandersetzung, ein Gegenentwurf, zu den Systemen gegen die aufbegehrt wurde. Die Form des Protests war mit dem Inhalt identisch. Die Forderung oder der Wunsch nach einer effektiveren Widerstandsbewegung würde beinhalten, dass sich das ändert. Ich glaube, die Geschichte der Widerstandsbewegungen der letzten Jahrzehnte, die Integration bzw. Assimilation des gesellschaftlichen Widerstands in Politik und Kultur zeigt, dass genau in dem Moment, in dem sich der Widerstand organisiert dieser Teil des kritisierten Systems wird. Und so seine innovative Kraft verliert. In dem Moment werden Umweltbewegungen zu etablierten grünen Parteien, die dann bereit sind, Kompromisse einzugehen, welche ihr "unschuldiges", altes Programm auch konterkarieren oder sogar verraten. Die gesellschaftskritische Popkultur und Kunst haben unser Alltagsbewusstsein und die Ästhetik zwar verändert, aber dieses Bewusstsein passt heute doch einfach nur noch viel besser in die Verkaufsstrategien und die Gewinnabsichten der Medienkonzerne. Die kritischen Inhalte sind zu einem reinen Verkaufsargument verkommen für Produkte, mit denen eine Klientel ihr schlechtes soziales Gewissen beruhigt. Daran, dass sich politisch und gesellschaftlich durch LiveAid etwas verändern könnte glaubt doch heute kein Mensch mehr. Bis auf Pussy Riot natürlich...
Ich weiß, dass sich das ziemlich hoffnungslos anhört, weil es mir auf der anderen Seite unausweichlich erscheint, dass es zu starken sozialen Verwerfungen kommen wird. Was ich auch für berechtigt halte. Ich habe kein Rezept oder einen Gegenvorschlag, aber ich kann mir eben einfach auch nicht vorstellen, dass eine organisierte Occupy Bewegung sich anders entwickeln würde als der soziale Widerstand, der sich hier seit den sechziger Jahren versucht hat gesellschaftlich zu organisieren. Deshalb glaube ich, dass die Angst der Wall Street gerechtfertigt, aber Ocupy als Bewegung oder als Metapher für eine Bewegung der falsche Adressat ist.
Da findet durch die aktuelle EZB-Politik ("Fluten der Finanz-Märkte mit frischem Geld") die größte Umverteilung bei Sparern und Rentnern seit der Währungsreform von 1948 statt, und die Wirtschaft und wirtschaftsnahe Politikkreise warnen: aber nicht vor einer Verarmung von Sparern und Rentnern, sondern vor "weiteren" Belastungen der Wirtschaft (Mindestlohn, Beseitigung von Rentenungerechtigkeiten, Frauenquote, Mietpreisbremse ...). Aber: "Die deutsche Wirtschaft wächst wie seit Jahren nicht mehr!" Wie wäre es, mal die aktuellen Entlastungen der Wirtschaft (geringere Finanzierungskosten, günstigere Exportbedingungen wegen EURO-Verfall, Steueroptimierung über Off Shore-Konstrukte ...) und das weitere Pampern der Finanzwirtschaft zu loben.
Verkehrte Welt?
Hört mal an, was Singer Songwriter Sigismund Ruestig dazu zu sagen bzw. zu singen hat:
http://youtu.be/QqoSPmtOYc8http://youtu.be/QGOx8I0COYg
Viel Spaß beim Anhören!
Man könnte das auch ganz anders ausdrücken:Die EURO-Rettungsschirme dienten und dienen in erster Linie dazu, die Verluste der Finanzbranche, die sich in EURO-Ländern wie Griechenland verzockt hatte, zu sozialisieren, d.h. den Steuerzahlern aufzubürden. Was sind die EURO-Rettungspakete demnach anderes als wieder einmal die Wirtschaft, insbesondere aber die Finanzbranche zu pampern, die doch eigentlich im Nachgang der Finanzkrise noch in großer Schuld gegenüber den Staaten und deren Steuerzahler steht. Und die Wohlhabenden werden u.a. auch durch die EURO-Rettungspolitik weiterhin noch reicher. Wie lange wollen wir uns das noch gefallen lassen? Haben denn unsere Volkswirte keine anderen Methoden in petto, als immer wieder Programme zulasten der Mittelschicht und der Geringverdiener, Unvermögenden, Rentner vorzuschlagen? Insofern ist Piketty immerhin ein Lichtblick!
Rock-Blogger und Blog-Rocker Sigismund Rüstig posted auf multimediale Weise Meinungen und Kommentare zu aktuellen Reiz-Themen in Form von Texten und Liedern.
Die Protestbewegung hat sich verlagert. Man muss in vielen Städten der USA, das sage ich als Liberaler , von Polizeiterror sprechen. Meine US-Freunde benutzen ihr Smartphone als Waffe. Es ist per Click mit Youtube kurzgeschaltet, so dass illegale Polizeiaktionen auch bei Zugriff rechtzeitig auf dem Web landen. Die Situation in manchen Ghettos entspricht einem Pulverfass. Viele friedliebende Amerikaner sind gegen das von Bush junior erdachte repressive System aufgebracht. Am besten auf Youtube zu ermitteln. Ein zweiter amerikanischer Bürgerkrieg, arm gegen reich, ist nicht undenkbar, mit ungeahnten Folgen.
Ich finde das gut, dass Occupy ironisch den Protest in die Geldzentralen getragen hat. Dennoch muss der Wandel woanders stattfinden. Mal sehen wie weit sich ein Sanders mit seinen Politikvorschlägen durchsetzen kann.