Viren ohne Grenzen

NEUES DENKEN Clinton macht Geschichte und erklärt Aids zum Nationalen Sicherheitsrisiko

Für Millionen Aids-Kranke und HIV-infizierte Menschen in der Dritten Welt führt die Brücke zum 21. Jahrhundert direkt ins Leichenhaus. Die amerikanische Regierung will diese Katastrophe jetzt mit einem einzigartigen Vorstoß angehen: Washington hat Aids zum "nationalen Sicherheitsrisiko" erklärt, könne die Immunschwächekrankheit doch Unruhen und Kriege auslösen und den Aufbau der freien Marktwirtschaft schwer behindern. Besonders im hochbetroffenen südlichen Afrika: Etwa ein Viertel der Bevölkerung dort wird an Aids sterben, hat ein geheimdienstlicher Lagebericht gewarnt. In Indien, Kambodscha und in Teilen Osteuropas droht eine ähnliche Katastrophe.

Mit der Aids-Initiative macht Clinton Geschichte. Er hat dem bisher von Männern in Uniform besetzten Begriff "nationale Sicherheit" neuen, zusätzlichen Inhalt gegeben. Das ist ein Stück "Neues Denken", wie es Friedensforscher schon lange fordern. Das Wohlergehen einer Nation hängt langfristig immer weniger von Nuklearraketen ab, und immer mehr von der Lösung sozialer und ökologischer Weltprobleme. Allerdings stehen die konkreten amerikanischen Pläne noch in keinem Verhältnis zu dem, was notwendig wäre, um die mit der mittelalterlichen Pest vergleichbare Epidemie zu bekämpfen. Lediglich eine neue Koordinationsgruppe aus Ministerien und Geheimdiensten wurde eingerichtet. Die darf sich immerhin im symbolträchtigen "Situation-Room" des Weißen Hauses treffen; dort also, wo sonst nur militärische Krisen beraten werden. Clinton will die anderen Industrienationen zur Zusammenarbeit gewinnen und die US-Mittel zur Aids-Bekämpfung im Ausland dieses Jahr auf 254 Millionen Dollar verdoppeln.

Die präsidiale Initiative trägt nicht zuletzt auch der Tatsache Rechnung, dass Adjektive wie "national" an Bedeutung verlieren. Viren kennen keine Grenzen. Gleiches gilt für die Auswirkungen der Klimaerwärmung und den weltweit sinkenden Grundwasserspiegel - allein im Norden Chinas fällt der um 1,5 Meter im Jahr. Schon heute weiß man, das wird sehr bald zu höheren Lebensmittelpreisen und Hungersnöten führen. So etwas treibt Ökoforscher zur Verzweiflung. Die Bedrohungen sind wohldokumentiert, doch Politiker, Kirchenvertreter, Presse und Rundfunk erregen sich über Big Brother und Benzinpreise. Vor dem Aids-Massensterben warnen Wissenschaftler schon seit zehn Jahren, und nicht erst seit den amerikanischen Geheimberichten.

Es gibt eben mächtige Hemmschuhe gegen rascheres Handeln. Politiker bekommen keine zusätzlichen Stimmen und Wahlspenden, wenn sie sich für Aids-Kranke im fernen Afrika engagieren. Pharmafirmen kämpfen um "ihre" Rechte auf neue Medikamente - auch wenn die Pillen dann so teuer werden, dass Aids-Kranke in Botswana und Südafrika sie nie bezahlen können und so noch schneller sterben. Aids ist beileibe keine Naturkatastrophe. Der Virus breitet sich in jenen Ländern besonders rasant aus, deren soziale Einrichtungen zerrüttet sind - sei es durch Kriege oder durch die "Anforderungen" der "freien Marktwirtschaft". Ein funktionierendes Gesundheitssystem gibt es nirgendwo im südlichen Afrika; die Länder tragen große Schuldenlasten - selbst wenn hier jetzt für Hilfe durch den Erlass von Schulden gesorgt wird. Es sei "obszön", so der ehemalige Kongressabgeordnete Don Dellums, dass Afrika im Jahr 30 Milliarden Dollar Schuldenrückzahlung leiste und in vielen Ländern kein Geld für elementaren Gesundheitsschutz und einfache Krankenversorgung da sei.

Führende Republikaner lehnen die Aufstockung der Aids-Hilfe um 126 Millionen Dollar ab - obwohl die Summe lächerlich klein ist, verglichen mit der einen Milliarde Dollar, die "Patienten" jährlich für die Potenzpille Viagra ausgeben, und den zwei Milliarden, die ein neuer B-2 Bomber kostet. Bekanntlich kann die Marktwirtschaft alles lösen. Noch gibt es in den USA (und im reichen Westeuropa) keine wirklich ins Gewicht fallende Lobby für eine internationale Aids-Hilfe. Im US-Präsidentschaftswahlkampf spielt Aids in der Dritten Welt keine Rolle. Afro-amerikanische Verbände, die sich im Kampf gegen Apartheid so verdient gemacht haben, protestieren heutzutage lauter gegen die Südstaatlerflagge aus dem amerikanischen Bürgerkrieg als gegen die relative Untätigkeit gegenüber den zehn Millionen Aids-Waisenkinder in Afrika. Homosexuellenaktivisten, die in den USA viel Geld für Aids-Forschung locker gemacht haben, kümmern sich nicht sonderlich um Aids in Afrika, wo die lebensverlängernde "Kombinationstherapie" aus verschiedenen Medikamenten nicht praktikabel und auch viel zu teuer ist. Kirchliche Verbände - sonst oft Vorreiter in Sachen Entwicklungshilfe - haben sich beim Thema Aids aus Gründen einer antiquierten Sexualmoral, die Aufklärung und Verhütung nicht gerade fördert, eher zurückgehalten.

Auch die afrikanischen Regierungen können sich der Verantwortung nicht entziehen. In Simbabwe zum Beispiel finanziert der Autokrat Mugabe Truppeneinsätze im Kongo, hat aber kaum Mittel zur Aids-Aufklärung und Verhütung. Und prominente Politiker scheuen sich, Promiskuität und fehlende Verhütung anzuprangern. Das Ausmaß der Aids-Katastrophe darf aber keine "Begründung" sein, nichts zu tun. Wer überzeugt ist, dass das Leben eines jeden Aids-Kranken in Botswana und Angola so viel wert ist wie das der amerikanischen oder deutschen Aids-Patienten, wird mehr tun wollen. Nach Angaben des UN-Programms für Aids/HIV würde es etwa vier Milliarden Dollar im Jahr kosten, rudimentäre Behandlungs- und Verhütungsprogramme im südlichen Afrika zu finanzieren, wesentlich weniger, als Bill Gates bei seinem jüngsten Minicrash verloren hat. Und lange nicht so viel, wie der Krieg gegen Jugoslawien kostete. n

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