Die von der Europäischen Verlagsanstalt kreierten »Duographien«, von denen inzwischen ein Dutzend Titel vorliegen, haben unbestreitbar ihre Reize und bringen ihren Lesern mit der Gegenüberstellung zweier unterschiedlicher Gestalten der politischen Geschichte oder der Kulturgeschichte manchen überraschenden Erkenntnisgewinn. Die Konzeption der Doppelbiographie steckt jedoch auch voller Tücken. Um das Zusammenspannen ihres jeweiligen Paares zu rechtfertigen, neigen manche Duographie-Autoren dazu, Parallelen und Koinzidenzen groß herauszustreichen, die beim näheren Hinsehen nicht weit tragen, weil sie lediglich kontingenter Natur sind.
Was zum Beispiel bedeutet es, dass der Weimarer Dichterfürst Goethe und der amerikanische Politiker Thomas Jeffers
as Jefferson etwa zur gleichen Zeit nach Italien reisten und dass sich, wie der Autor Ekkehart Krippendorff meint, in Jeffersons Reisetagebüchern eine geradezu Goethesche «ganzheitliche Betrachtungsweise» findet? Oder ist es mehr als ein bloß hübscher Einfall, zwischen Goethes Bindung ans Weimarer Ländchen und Jeffersons Bindung an seinen Heimatstaat Virginia enge Parallelen zu ziehen? Beide waren fleißige Briefschreiber, beide starben hochbetagt - da dies auch Voltaire oder anderen Gestalten des Aufklärungszeitalters nachgesagt werden kann, behält die Parallelschaltung des deutschen Dichters und Provinzministers und des amerikanischen Südstaatenfarmers und zeitweiligen Präsidenten Jefferson etwas Gewaltsames. Während der an der amerikanischen Entwicklung interessierte Goethe auch auf Jefferson, den Mitverfasser der Unabhängigkeitserklärung, aufmerksam wurde, hat Jefferson, räumt Krippendorff ein, trotz beachtlicher Allgemeinbildung und trotz Europa-Aufenthalten von Goethes Werk und Existenz niemals Notiz genommen.Lesenswert ist diese Goethe-Jefferson-Duographie dennoch, vor allem der Jefferson-Hälfte wegen. Denn während im deutschen Sprachraum über den pausenlos abgefeierten Goethe nur unter Krämpfen Neues abgesondert werden kann, was auch der Schulbuchstil widerspiegelt, in den Krippendorff häufig verfällt, bleibt über Thomas Jefferson fast alles noch zu sagen. Zeitungsleser wissen allenfalls, dass Bill Clinton mit dem zweitens Vornamen Jefferson heißt, weil seine Südstaateneltern den Virginier besonders verehrten. Vielleicht ist auch etwas von den, viele Amerikaner irritierenden Enthüllungen zur Kenntnis genommen worden, die, gestützt auf DNA-Analysen, den verehrten Pionier des frühen demokratischen Amerika als Beischläfer einer seiner schwarzen Sklavinnen und Vater einer Mischlingstochter entlarvten.Bei aller offenkundigen Bewunderung für Jefferson relativiert Krippendorff den Umstand nicht, dass der Herold des Aufbaus einer neuen, von fremder Kolonialherrschaft befreiten Welt, nicht so weit gehen mochte, auch auf seinem eigenen Besitz jenes Erbe des Kolonialregimes abzuschaffen, das die, sexuelle Ausbeutung einschließende, Sklavenwirtschaft war. Der klassisch gebildete Jefferson, deutet Krippendorff an, lebte geistig vielleicht zu intensiv in der an die Sklavenausbeutung gewöhnten Welt der Antike, um an dem Widerspruch zwischen den von ihm vertretenen, in Amerika zu verwirklichenden Gleichheitsidealen, und der auf seiner eigenen Sklavenfarm Monticello in Virginia herrschenden Ungleichheit ernsthaft Anstoß zu nehmen. Erlesene Bildung und Duldung der Barbarei vertrugen sich auch in der Neuen Welt nicht schlecht.Die Beschäftigung mit der Antike, mit Athens Polis wie mit griechischer Kriegsgeschichte, brachte Jefferson, wie aus Krippendorffs fleißigem Studium von Tagebüchern, Korrespondenzen und Akten hervorgeht, jedoch auch zu erstaunlich aufgeklärten politischen Einsichten. Unter Jeffersons Präsidentschaft starteten die Vereinigten Staaten zwar ihre erste bewaffnete Marineexpedition in Übersee, an die Küste eines Landes, das der heutigen US-Regierung als Schurkenstaat gilt, an die Küste Libyens. Jedoch ging es damals, im Jahr 1804, nicht um Stützpunkteroberung, sondern um die Befreiung amerikanischer Handelsschiffe, die von Piraten gekapert und nach Tripolis geschleppt worden waren. Nach gelungener Mission kehrten die amerikanischen Kriegsschiffe zurück und wurden dann eingemottet, da sie nach dem Willen Jeffersons nicht zum Kern einer zwar einsatzbereiten, dafür aber auch überaus kostspieligen Marine werden sollten.Vom Verlauf der Seeschlacht bei Salamis beeindruckt, bei der die kleinen griechischen Fahrzeuge den Sieg über die persischen Großschiffe davontrugen, setzte Jefferson auf eine amerikanische Küstenverteidigung durch kleine, nicht hochseetüchtige Kanonenboote, die je nach Bedarf mit erfahrenen Bürgern bemannt werden sollten, nicht mit Berufssoldaten. Jefferson wünschte anfänglich kein stehendes Heer, da er befürchtete, eine Armee mit ihrem sich verselbstständigenden Offiziersapparat nie wieder loswerden zu können; doch kaum war er ins Amt des Präsidenten gewählt, gründete er eine Militärakademie, Westpoint, die heute noch besteht.Es gehört zu den Vorzügen der Krippendorffschen Jefferson-Darstellung, dass sie derartige Diskrepanzen zwischen hochfliegenden politischen Überzeugungen und anderslautendem realpolitischen Handeln nicht einer bedauerlich schwachen, labilen Persönlichkeit anlastet, sondern dem widerspruchsgeladenen Prozess praktisch werdender Aufklärung zuschreibt. Jeffersons auf die Präsidentschaft folgender kompletter Rückzug auf Angelegenheiten des Staats Virginia und seines eigenen Guts Monticello betrachtet Krippendorff nicht, wie in der amerikanischen Jefferson-Folklore üblich, als wohlverdientes Ausruhen von der Politik, sondern sieht in ihm eine Form praktischer Kritik an den sich in der amerikanischen Bundespolitik zunehmend durchsetzenden zentralisierenden Tendenzen. Er zitiert einen von Jefferson kurz vor seinem Tod verfassten Protest des Staates Virginia zu den Prinzipien der Verfassung der Vereinigten Staaten und deren Verletzungen und kommt im Blick auf Jeffersons politische Lebensgeschichte zu dem Schluss, dass der ehemalige Präsident zu einem bestimmten Zeitpunkt offenbar bereit war, «das ganze Projekt Vereinigte Staaten, das er selbst mit aus der Taufe gehoben, dessen wichtigstes Gründungsdokument er verfasst, dem er in den höchstmöglichen Staatsämtern, acht Jahre davon als Präsident gedient hatte, zu zersprengen.«Jeffersons bekannter, jedoch meist nur als hübsches Bonmot aufgefasster Ausspruch: »ich zittere für mein Land, wenn ich bedenke, dass Gott gerecht ist: dass seine Gerechtigkeit nicht für immer schlafen wird...«, erhält in dem von Krippendorff skizzierten Gesamtzusammenhang von Jeffersons Denken und Handeln einen genau bestimmbaren Sinn. Der aus dem Amt geschiedene Präsident Jefferson hatte nicht nur im Lauf der Zeit ein Bewusstsein von den Opfern erworben, die von indianischen Ureinwohnern und afrikanischen Sklaven für das amerikanische »nation-building« zu erbringen waren, er fürchtete zudem, dass es anderen Mächten wie dem Britischen Königreich gelingen könnte, »uns aus einer friedlichen und landwirtschaftlichen in eine militärische und industrielle Nation zu verwandeln.« Einmal von Gründervätern wie Thomas Jefferson und Benjamin Franklin als dem Geist der Vernunft und der Aufklärung verpflichteter Staat konzipiert, der dem Rest der Welt ein Modell guten Regierens geben sollte, haben sich die Vereinigten Staaten inzwischen für alle Welt sichtbar in eine arrogante, hochgerüstete, weltweit intervenierende, ökonomische und militärische Monopol-Supermacht verwandelt. Krippendorff ist schwer zu widersprechen, wenn er die USA des George W. Bush einen »Schlag ins Gesicht des Jeffersonschen Erbes« nennt.Während sich in Europa heute viele damit vergnügen, sich wichtigtuerisch ihre jeweiligen Amerika-Mythen um die Ohren zu hauen, kommt Krippendorffs fundierte Erinnerung an die in der Aufklärung wurzelnden geistigen Ursprünge der amerikanischen Gründung gerade gelegen. Dass der Autor, wie aus den Goethe-Abschnitten ersichtlich, es ein bisschen arg mit Klassikern wie Goethe hat, ist ihm da fast zu verzeihen.Ekkehart Krippendorff: Jefferson und Goethe. EVA-Duographie. Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2002, 212 S. 16,50 EUR
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