Die Legende: Der totenbleiche Sohn, ein Eber hat ihn zerfleischt, der Vater schreckenserstarrt darüber gebeugt, am Waldrand ein Hirsch mit leuchtendem Kreuz im Geweihrahmen. Die Jagd galt dem Eber. Der Eber erlegte den Sohn. Ob auch die anderen Herren der Jagdgesellschaft den Hirsch und seine Bedeutung erkannten? Oder hatte nur der Vater des Toten eine Schmerzensvision mit handfesten Folgen? Ein Kupferkelch wurde in Auftrag gegeben und reichlich verziert, mit Steinen (abhanden gekommen) und mit teils nicht zu entschlüsselnden Motiven, sagt der Mönch in der dunklen Kutte der Benediktiner. Jetzt steht der tausendjährige Tassilokelch sicher in einer Vitrine aus Panzerglas. Der Mönch, fast noch ein Knabe, hat eine unbändige Freude daran, einen der bedeutendsten Sc
Schätze der Christenheit zeigen zu können, hat auch eine deutliche Freude an sich (seinem Dasein, seiner Erscheinung). In der Bibliothek nimmt er Folianten aus dem Regal, liest flüssig Latein. Erheischt Anerkennung. Sie wird ihm zuteil. In fünf oder sechs Jahren, sorge ich mich, fragt er, was hab ich getan? Wird ihm eine gültige Antwort gegeben? Der ernsthafte Eifer wird, bin ich sicher, mit Sinn belohnt, der das Zagen bezwingt.Vor der Besichtigung der Schätze des Klosters Kremsmünster wird im Kaisersaal unter Fresken ein typisch österreichisches Essen verzehrt. Nudelsuppe und Schnitzel und Nusstorte zum Kaffee. Der Abt gibt ein Vivat! vor. Vivat! aus 300 Kehlen. Pater Bernhard ist der erste, der trinkt. Ihm gilt der Ruf. Es ist sein großer Tag. Der hauseigene Wein wird gebechert.Davor war die Orgel und Orchester verklungen (Haydns in tempore belli). Der Bischof hat den Segen gesprochen. Pater Bernhard den Schwur vor der Gemeinde getan. "Hier bin ich." Die Gemeinschaft der Priester umringt ihn, ein jeder legt ihm die Hand auf. Jetzt gehört er dazu. Das Gesicht zur Erde gewandt, wirft er sich hin. Wird mir da das Geheimnis des Glaubens ein Stück weit entdeckt? Unterwerfung unter die Ordnung als Garant für eine innere Freiheit in Zeiten äußeren Scheins? Das Bild des Unterwürfigen geht mir zu Herzen. Schön wäre es, wenn es so wäre. Aber es bleibt ein wenig schwer zu erfassen im barocken Tumult, der von allen Seiten auf mich herabstürzt. Der Wunsch ist stark zu glauben, dass einer hier nicht sein Leben auf- oder hingibt, sondern ein neues, ein spirituelles Leben (ein erfülltes) beginnt. Da hat sich einer für etwas Anderes entschieden, folgt nicht dem Lifestyle. Böse Zungen sagen: Der ist auch bloß ein Karrierist. Der Zauber eines gut inszenierten Spektakels liegt über allem. Ein Mädchen fragt seine Mutter: Warum aber sind dort vorne nur Männer? Die Mutter, verlegen, bleibt eine Antwort schuldig. Das muss ich mir noch genau überlegen, was ich da sage, sagt sie beim Essen zu mir.Aber im Altarraum liegt ein Mensch auf dem Boden, bleich, in der Nachfolge des Sohnes am Kreuz, des Sohnes am Waldboden, sagt: "Hier bin ich." Er sagt: "Ich will dienen." Er tritt einen Dienst an, in Demut. Ich bedaure den Mann Mitte 30, es spöttelt in mir. Die Haydnschen Pauken, der Krieg rückt näher. Und mit dem Krieg kommt der Kampf. Wählte er diese Musik, weil er weiß, was da zukommt auf ihn? Ist er gerüstet? Wie er da liegt, so einfach, so schlicht, (so naiv?) nährt meine Zweifel. Draußen (in der Welt) tobt doch der Bär. Schert er sich gar nicht darum? Entzieht sich der Mann dort vorne, macht der es sich vielleicht einfach, macht er sich einfach davon in den wohligen Schoß Mutter Kirche?Es steht geschrieben, der Mensch ist getrennt von Gott und kennt den Weg nicht, den Gott für ihn vorgesehen hat. Trennt der dort vorne sich auch von der Welt? Trennt sich von sich? Ehe ich Antworten finde (wie auch?), sehne ich mich plötzlich selbst nach einem anderen Leben, als dem eignen (starkes Gefühl). Die Worte "vertun, versäumen, vermissen" peinigen mich. Wenn die Sehnsucht nach einem anderen Leben alles ist, was mich im Angesicht Gottes überschwemmt, ist die Bilanz ziemlich mager. Oder haben die Tricks hier, bin ich benebelt vom Weihrauch? Vielleicht bin ich nur hilflos, kann das Stück dort vorne nicht zur Gänze verstehen. Es bleibt keine Zeit, das zu erforschen. Der jubilierende Chor setzt ein, ein Aufschrei. Die Freude des Festtages kommt kräftig zum Ausdruck. Warum also grübeln? Jubeln! Woran denkt dieser Neupriester, wenn er ins Publikum grinst? Ist er ein Schelm? Er ist fürs Erste weit weg. Ich will mich ihm nähern. Aber erst mal läuft alles über den Hof zum Essen. Nudelsuppe, Wiener Schnitzel, hauseigener Wein, Vivat! Nusstorte zum Kaffee.
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