Der Freitag: Der ehemalige Staatssekretär Walther Stützle sagte mit Bezug auf die Situation in Syrien und im Irak, die Lösung müsse aus diesen Ländern selbst kommen oder sie komme gar nicht. Sollte man das so interpretieren, dass man die Konflikte in diesem Gebiet eine Weile sich selbst überlassen muss?
Sahra Wagenknecht: Von „selbst überlassen“ kann keine Rede sein. Der IS ist ja nicht zuletzt von westlichen Ländern aufgerüstet worden. Die Türkei unterstützt ihn bis heute, genau wie die Golfstaaten, die aus Deutschland mit Waffen beliefert werden. Die USA wiederum haben mit ihrer Intervention im Irak 2003 den Boden dafür bereitet, dass sich die Terrorgruppen überhaupt so weit ausbreiten konnten.
Aber klar ist auch: Der Irak kann den IS allein nicht aufhalten.
Was in erster Linie eine Konsequenz des Kriegs von 2003 und der Besatzungszeit danach ist, die das Land in einen Bürgerkrieg gestürzt hat. Vorher war der Irak ja ein relativ stabiler Staat – natürlich ein undemokratischer. Saddam Hussein war ein Diktator, der jede Opposition brutal unterdrückt hat. Aber die Situation, die mit der US-Invasion entstanden ist, war für die Bevölkerung noch viel schlimmer. Jedes Jahr verlieren Zehntausende durch Attentate, Mord und Anarchie ihr Leben.
Auch wenn die aktuelle Lage auf die Invasion von 2003 zurückgeht: Muss man den bedrängten Kurden im Irak und vor allem in Syrien nicht helfen?
Natürlich muss man helfen. Man muss sehr viel mehr für die Menschen tun, die vor den barbarischen Terrormilizen fliehen. Aber die Türkei setzt gegen Fliehende Tränengas ein, geht massiv gegen Unterstützungsdemos vor und beschießt jetzt auch noch die PKK. Hingegen lässt sie weiter Nachschub für den IS über die Grenze. Das ist nur noch zynisch. Es muss jetzt massiver Druck auf Erdogan ausgeübt werden, seine Politik zu ändern. Die Angriffe auf die PKK müssen sofort aufhören. Die Grenze muss für die Kurden offen und für den IS abgeriegelt sein. Das wäre echte Unterstützung für die Menschen, ohne Bomben zu werfen.
Angesichts der Lage in den Kurden-Gebieten benutzen auch Linke Vokabeln wie „Ruanda“ oder „Srebrenica“. Halten Sie diese Vergleiche für angemessen?
Überall wo der IS ist, finden Gemetzel statt. Das ist grauenvoll. Aber jetzt als Lösung nach neuen militärischen Interventionen zu rufen, ist heuchlerisch. Alle Mächte, die militärisch involviert sind, verfolgen eigene Interessen. Die Amerikaner haben ein Interesse am kurdischen Gebiet im Nordirak, weil es dort Öl gibt. Die Türkei will vor allem Assad stürzen und die PKK bekämpfen und schaut wohlwollend zu, wenn der IS die kurdische Selbstverwaltung in Kobane im Blut ertränkt.
Militärische Interventionen sind in Ihrer Partei kein Tabu mehr. Gerade wurde ein Aufruf veröffentlicht, den mehrere prominente Parteimitglieder unterzeichnet haben und in dem mit Blick auf den IS von militärischen Optionen die Rede ist ...
Es gibt ja bei uns immer schon Einzelne, die das befürworten, aber in der Partei ist das eine absolute Minderheitsposition.
Würden Sie eine Militäraktion auch dann ablehnen, wenn die vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen beschlossen ist?
Und wer sollte dann mit einer Militärintervention betraut werden? Es gibt bei der derzeitigen Zusammensetzung des Sicherheitsrats keine UN-Mandate ohne Zustimmung der USA, und ich kann mich an keine US-geführte Militärintervention seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs erinnern, die für das betroffene Land Gutes bewirkt hätte. Es ging in der Regel um Rohstoffe und Absatzmärkte oder um die Verhinderung progressiver Entwicklungen. Es ging nie um Humanität.
Die Akteure des Völkerrechts sind Staaten. Halten Sie angesichts der Bedrohung durch den nichtstaatlichen IS das vorhandene Völkerrecht noch für geeignet, um der Situation Herr zu werden?
Ich habe nicht die Illusion, dass man dem IS damit beikommt, dass man ihm die UN-Charta unter die Nase hält. Aber wenn es allein Terrorgruppen wie der IS wären, die das Völkerrecht mit Füßen treten, wären wir schon weiter. Der größte Völkerrechtsbrecher sitzt jedoch im Weißen Haus. Warum zerfallen denn immer mehr Staaten in blutigen Bürgerkriegen? Nahezu überall haben die Amerikaner ihre Finger im Spiel. Syrien droht jetzt ein ähnliches Schicksal wie dem Irak. Klar, Assad ist ein Diktator. Aber wenn für einen regime change eben auch der IS hochgerüstet wird, destabilisiert das die Region immer weiter.
Die PKK ist ein entscheidender Akteur, gerade was Nordsyrien angeht. Sollte die PKK nicht von der EU-Terrorliste gestrichen werden?
Wir waren immer gegen das PKK-Verbot. Es ist völlig kontraproduktiv, wie man erst recht in der aktuellen Situation sieht. Es ist bezeichnend, dass die PKK verboten ist, während der IS in Deutschland bis vor wenigen Wochen legal tätig sein konnte. Das zeigt, mit welch gespaltener Zunge die westliche Außenpolitik spricht. Diejenigen, gegen die man später kämpft, hat man vorher alle selbst aufgebaut und groß gemacht. Das war bei Saddam Hussein und bei den Taliban so. Das ist beim IS nicht anders.
Was erwarten Sie konkret von der Bundesregierung?
Ich erwarte einen sofortigen Stopp von Rüstungsexporten in die gesamte Region. Und natürlich wünsche ich mir eine deutsche Regierung, die den Mut hat, sich mit den USA anzulegen, statt ihnen ständig rückgratlos hinterherzulaufen. Und ich erwarte, dass man endlich Druck auf die Türkei und die Golfstaaten ausübt, ihre Unterstützung für den IS zu beenden.
Befürworten Sie einen Abzug der an der türkisch-syrischen Grenze stationierten deutschen Patriot-Raketen samt Soldaten?
Natürlich! Die Türkei ist in diesem Konflikt nicht unser Verbündeter, sondern spielt eine zynische Rolle. Zudem versucht Ankara, einen NATO-Bündnisfall herbeizuführen, in dem dann auch Deutschland sich engagieren müsste. Das und die immer rücksichtslosere Kriegspolitik der USA sollten bei uns endlich zu einem Nachdenken führen, ob man es wirklich verantworten kann, Teil der militärischen Integration der NATO zu bleiben. Die Linke fordert schon lange, dass Deutschland aus diesen militärischen Strukturen ausscheidet, um nicht für Obamas Drohnenkrieg und andere Kriegsabenteuer in Mitverantwortung zu stehen.
Zu einem anderen Krisenherd: Sollte sich Deutschland als militärischer Helfer der OSZE bei der Überwachung der Waffenruhe in der Ostukraine engagieren?
Ich halte das für vollkommen geschichtsvergessen. Deutsche Soldaten haben in der Ukraine nie wieder etwas zu suchen. Außerdem ist Deutschland nicht neutral. Die Bundesregierung hat sich von vornherein einseitig auf die Seite der Regierung in Kiew geschlagen, obwohl an ihr Faschisten beteiligt sind und im Osten ein blutiger Krieg gegen die eigene Bevölkerung geführt wurde. Deutschland ist deshalb aus historischen wie aktuellen Gründen völlig ungeeignet, dort die Waffenruhe und die Pufferzone zu überwachen.
Wer wäre geeignet?
Neutrale Länder, die das Vertrauen beider Seiten haben. Wer den Konflikt mit angefacht hat, sollte nicht den Friedensrichter spielen.
Das heißt: keine NATO-Länder?
So ist es.
Dem wird die ukrainische Regierung nicht zustimmen. Sie will ja unter den Schutz der NATO.
Es geht um die Überwachung einer Pufferzone, um endlich den Bürgerkrieg zu beenden. Wenn das die NATO machen soll, wird es keinen Frieden geben. Gerade die Annäherung an die NATO ist ja ein entscheidender Auslöser des ganzen Konflikts. Weil Russland verständlicherweise nicht zusehen will, wie es von diesem Militärbündnis immer mehr eingekreist wird.
Warum ist die Linkspartei nicht solidarischer gegenüber Russland? Schließlich hat Wladimir Putin vor der Ukraine-Krise des Öfteren sicherheitspartnerschaftliche Vorstellungen entwickelt, die von denen der Linkspartei nicht so weit entfernt schienen.
Also mangelnde Solidarität mit Russland ist normalerweise nicht das, was uns vorgeworfen wird. Wir sind tatsächlich keine Anhänger von Putins Innen- oder Sozialpolitik. In Russland herrscht ein ziemlich rüder Mafiakapitalismus. Aber: Die Verantwortung für die Eskalation des Konflikts liegt nicht bei Russland, sondern im Westen. Dass die Ukraine vor die Entscheidung gestellt wurde: Russland oder EU, ging nicht von Moskau, sondern vom Westen aus. Das gilt ebenso für die Sanktionen oder für Manöver, mit denen Russland im Schwarzen Meer provoziert wurde. Aber Sicherheit in Europa gibt es nur mit und nicht gegen Russland.
Sahra Wagenknecht (45) ist erste stellvertretende Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag. Die promovierte Ökonomin veröffentlichte mehrere Bücher, zuletzt Freiheit statt Kapitalismus: Über vergessene Ideale, die Eurokrise und unsere Zukunft (Campus 2011, 19,99 €)
Hat das ukrainische Volk nicht das Recht, sich dem Westen anzunähern, wenn es dies wünscht?
Ob die ukrainische Bevölkerung eine Situation wollte, wie sie jetzt besteht, bezweifle ich. Es gibt eine katastrophale Wirtschaftslage, mehr Armut und einen Konflikt, dem schon über 3.600 Menschen zum Opfer fielen. Es gab einen besseren Weg – mit der EU kooperieren, aber gleichzeitig die enge ökonomische Verflechtung mit Russland erhalten. Bisher gibt es keine Abstimmung, bei der eine Mehrheit gesagt hätte: Wir wollen die Konfrontation mit Russland.
Ist die territoriale Integrität der Ukraine noch zu retten?
Ich denke, das Wichtigste ist jetzt, dass die Ukraine nicht noch weiter zerfällt, sondern in ihrer territorialen Integrität erhalten bleibt.
Die Krim eingeschlossen?
Es wäre besser gewesen, der Konflikt wäre nie in der Form eskaliert, wie wir das erlebt haben. Jetzt muss man davon ausgehen, dass Russland sich von der Krim nicht wieder zurückziehen wird. Schon gar nicht, solange eine mögliche NATO-Mitgliedschaft der Ukraine nicht definitiv vom Tisch ist.
Was erwarten Sie von der Bundesregierung, um die Krise zu entschärfen?
Eine vom Willen zur Entspannung getragene Politik, die die Interessen anderer Staaten ernst nimmt. Es gibt legitime Interessen Russlands. Werden die nicht berücksichtigt, wird der Konflikt weiter schwelen. Wir sehen, wie die Sanktionen auf die deutsche Wirtschaft zurückschlagen. Die Einzigen, die sich freuen, sind amerikanische Großunternehmen, die ihre Wettbewerber geschwächt sehen, und US-Energiekonzerne, die nur darauf warten, das russische Gas durch Frackinggas zu ersetzen.
Auch die Chinesen freuen sich.
Sicher. Man drängt Russland dazu, sich immer stärker auf die Achse mit China zu stützen. Im Interesse Europas ist das nicht.
Was erwarten Sie von Russland, damit der Konflikt abflaut?
Dass Russland ebenfalls alles unterlässt, was die Lage weiter verschärft. Man muss eine Lösung mit allen Beteiligten finden, bei der die Ukraine erhalten bleibt, aber garantiert ist, dass die russische Minderheit nicht gedemütigt und ausgegrenzt wird.
Die Außenpolitik treibt SPD und Grüne auf der einen und die Linkspartei auf der anderen Seite weit auseinander. Kann man Rot-Rot-Grün auf Bundesebene für 2017 getrost abschreiben?
Wenn die SPD an ihrer jetzigen Außenpolitik festhält, die Kriegseinsätze der Bundeswehr und Rüstungsexporte in Krisenregionen befürwortet, dann gibt es natürlich keine Gemeinsamkeit. Wenn sie sich auf die Tradition Willy Brandts besinnt, sind wir einer Meinung. Im Wege steht aber auch, dass die SPD zu einer Partei der Lohn- und Rentenkürzungen geworden ist. Mit diesem Kurs hat sie sich erfolgreich auf ein Niveau von 23 bis 24 Prozent der Wählerzustimmung manövriert. Das heißt, sie hat mit dieser Ausrichtung keine Chance, irgendwann wieder den Kanzler zu stellen, weil es so kein Bündnis mit uns geben wird. Bleibt sie auf dem Agenda-Kurs der letzten Jahre, ist sie der natürliche Partner der CDU und verhindert so eine andere Politik in Deutschland. Ich würde die Hoffnung allerdings nicht aufgeben, dass die SPD irgendwann wieder zur Besinnung kommt.
Das Gespräch führten Lutz Herden und Julian Heißler
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