Völlig abgehoben: Warum die politische Elite falsche Entscheidungen trifft
Ungleichheit Viele Menschen werden unruhig, weil ihr Lebensstandard bedroht ist. Spitzenpolitikern ist das fremd: Sie stammen oft aus den Kreisen der oberen vier Prozent
Der rote Teppich liegt bereit – vielleicht kommt ja noch ein Warburg-Banker zum Cum-Ex-Lunch
Foto: Florian Gaertner/Photothek/Getty Images
In den vergangenen Wochen haben viele Haushalte in Baden-Württemberg Post von der EnBW erhalten, dem größten Energieversorger des Landes und einem der größten in Deutschland wie in Europa. Darin teilt der Konzern seinen Kunden mit, dass die Beschaffungskosten aufgrund des Konflikts in Osteuropa und der weltweit stark gestiegenen Nachfrage nach Strom eine noch nie dagewesene Größenordnung erreicht hätten. Man sehe sich daher gezwungen, die Strompreise zum 1. Oktober deutlich zu erhöhen. In der Grundversorgung bedeutet das eine Erhöhung von mehr als 37 Prozent für die Kilowattstunde Strom, von 27,29 Cent auf 37,31 Cent, und inklusive des Grundpreises eine um durchschnittlich gut 31 Prozent. Diese massive Steigerung dürfte denen, die
die jetzt Heizöl tanken müssen, allerdings eher als Kleinigkeit erscheinen. Sie müssen im Raum Karlsruhe aktuell für 100 Liter über 187 Euro zahlen, fast dreimal so viel wie vor einem Jahr, als es noch gut 67 Euro waren.Beim Gas wird sich diese Entwicklung mit zeitlicher Verzögerung im Spätherbst und Winter bemerkbar machen. Und es sind nicht nur die Energiepreise, die rasant steigen. Bei den Lebensmitteln ist Ähnliches zu beobachten mit Preisanhebungen von 15 Prozent im Durchschnitt und von bis zu 60 Prozent in der Spitze. Die anstehenden finanziellen Zusatzbelastungen für die große Mehrheit der deutschen Haushalte werden jetzt zunehmend sichtbar. Wenn die Bundesbank dann noch vor einer insgesamt zweistelligen Inflationsrate nach dem Auslaufen des sogenannten Tankrabatts Ende August warnt, dürfte so gut wie jedem dämmern, was da auf die Masse der Bevölkerung zukommt. Eine zweistellige Inflationsrate gab es in der Bundesrepublik noch nie. Auch auf das ganze Jahr 2022 gerechnet, dürfte die Inflationsrate das bisherige Maximum von gut sieben Prozent Anfang der 1970er-Jahre übertreffen. Für all diejenigen, die 50 Jahre und jünger sind, wird das eine vollkommen neue Erfahrung sein.Inflation: Viele Menschen werden unruhigGroße Teile der Bevölkerung werden dementsprechend unruhig, weil sie die Ahnung beschleicht, dass all das erst der Anfang ist. Die Mehrheit der Beschäftigten hatte sich nach den Reallohnverlusten der Nullerjahre im vergangenen Jahrzehnt gerade erst wieder an reale Lohnsteigerungen gewöhnt, da dürften die schon wieder zu Ende sein. Reale Verluste sind aktuell schon spürbar und dürften auch die nächsten Jahre bestimmen.Die spürbare Verschlechterung der Lebensbedingungen trifft nicht nur, wie oft, das untere Drittel der Gesellschaft, sondern auch weite Teile der Mittelschichten. Allerdings werden diejenigen, die bislang schon am stärksten benachteiligt waren, auch jetzt wieder am heftigsten gebeutelt. So trifft die Inflation die Niedrigverdiener deutlich stärker als die Haushalte mit mittleren oder gar die mit hohen Einkommen. In den Monaten seit April lag sie stets einen Prozentpunkt beziehungsweise sogar über zwei Prozentpunkte höher als bei diesen beiden Haushaltsgruppen. Hier schlägt sich nieder, dass die ärmeren Haushalte den allergrößten Teil ihres Einkommens für Mieten inklusive Nebenkosten und Lebensmittel aufwenden müssen, die die höchsten Steigerungsraten verzeichnen. Auch wenn all das durch die verschiedenen Hilfsprogramme der Bundesregierung etwas abgemildert wird, so bleibt die grundsätzliche Entwicklung davon doch unberührt.Der Lebensstandard der meisten Bundesbürger sinkt (mehr oder minder stark). Nur am oberen Ende ist davon nichts zu spüren. Die Reichsten haben sogar dazu gewonnen. So ist das Vermögen der zehn reichsten Deutschen seit Mitte 2019 trotz Corona- und Energiekrise von gut 150 auf aktuell gut 225 Milliarden Euro angewachsen. Bei den übrigen Milliardären und Multimillionären sieht es ähnlich aus, auch wenn die Zuwächse weniger drastisch ausfallen.Sparappelle von Spitzenverdienern wirken wie RealsatireDie Äußerungen und das Verhalten der Eliten stehen zu dieser Entwicklung in einem merkwürdigen Kontrast. Wenn (aktuell oder ehemals) führende Politiker wie Robert Habeck, Winfried Kretschmann (beide Grüne) oder Ex-Bundespräsident Joachim Gauck den Bürgern jetzt empfehlen, den steigenden Energiekosten dadurch zu begegnen, dass sie kürzer duschen, verstärkt den Waschlappen anstelle der Dusche nutzen oder einen dickeren Pullover tragen, dann wirkt das auf viele wie Realsatire. Solche Sparappelle von Personen zu hören, deren Einkommen zwischen knapp 20.000 und gut 25.000 Euro pro Monat liegen, muss für Normalverdiener und erst recht für Geringverdiener überheblich, gar provokativ wirken. Die Eliten sind abgehoben, dieser Eindruck macht sich immer mehr breit.Auch die Debatte um die Gasumlage passt in dieses Bild. So reagierte die Sprecherin des Bundeswirtschaftsministeriums in der Bundespressekonferenz auf die Kritik, dass von der Umlage nicht nur konkursgefährdete Unternehmen wie Uniper, sondern auch solche mit stark gestiegenen Gewinnen profitierten, mit der Bemerkung: „Wir stehen auf dem Standpunkt, dass ein Unternehmen auch Gewinne machen muss.“Wie das auf die Menschen wirkt, die sich massive Sorgen über die nächste Gasabrechnung machen, war ihr offensichtlich nicht bewusst oder vielleicht sogar egal. Ähnliches gilt für Finanzminister Christian Lindner (FDP), der trotz der massiven gesellschaftlichen Probleme hierzulande seine pompöse Hochzeit in Sylt unter großer Beteiligung der Medien regelrecht zelebriert hat und dem die Wirkung in der breiten Öffentlichkeit ebenfalls nicht bewusst oder aber gleichgültig war. Die Maskenaffäre um den Flug von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), Robert Habeck, zahlreichen Managern und Journalistinnen nach Kanada ist ein weiteres Beispiel. Man hat offensichtlich nicht daran gedacht, welchen Eindruck es machen muss, wenn man einfach die für alle anderen Bürger bei Flügen oder Zugfahrten gültige Maskenpflicht ignoriert.Die ärmere Hälfte zählt nichtDie fehlende Vorstellung vom Leben und Denken der Durchschnittsbevölkerung, geschweige denn deren ärmerer Hälfte, ist eines von zwei Merkmalen, die die allermeisten Mitglieder der Eliten grundsätzlich von der Restbevölkerung unterscheiden. Das andere ist die Haltung, die allgemeinen Regeln für sich selbst außer Kraft setzen zu können, für sich eigene Regeln schaffen zu können. Ob diese Haltung bei der „Maskenaffäre“ auch eine Rolle gespielt hat, lässt sich nicht sicher sagen, ist aber nicht ganz unwahrscheinlich.Ganz sicher aber war sie entscheidend für das Verhalten von Patricia Schlesinger, der ehemaligen Intendantin des RBB und Vorsitzenden der ARD. Die Chuzpe, mit der sie sich und einem engen Kreis von Führungskräften unter Umgehung aller Regeln und Kontrollmechanismen hohe Boni zugeschanzt hat, während die normalen Beschäftigten des RBB unter enormen Spardruck gesetzt wurden, ist anders nicht zu erklären. Ihr Verhalten ist aber nicht so einzigartig, wie derzeit oft gesagt wird. In Berlin ist es gerade einmal fünf Jahr her, dass die Präsidentin des Landesrechnungshofs, Marion Claßen-Beblo, den Senat aufgefordert hat, die gesamte obere Führungsebene eine Besoldungsstufe höher zu gruppieren. Für sie hätte das den Aufstieg von B8 auf B9 bedeutet, was schon damals einem Grundgehalt von über 10.000 Euro entsprach. Zur Gegenfinanzierung schlug sie die Streichung von zwölf Stellen im mittleren Dienst der Behörde vor. Die grundsätzliche Einstellung ist dieselbe wie bei Schlesinger, nur war aufgrund der Position im öffentlichen Dienst keine Geheimhaltung wie beim RBB möglich.So wie in Berlin, so lassen sich auch in anderen deutschen Großstädten vergleichbare Verhaltensmechanismen in den Kreisen der Eliten beobachten. In Hamburg, der Großstadt mit dem wohl klassenbewusstesten Großbürgertum hierzulande, ist das gut zu sehen. Der Cum-Ex-Skandal liefert dafür regelmäßig neue Belege. Die trotz aller Erinnerungslücken des einstigen Ersten Bürgermeisters Olaf Scholz und seines Amtsnachfolgers Peter Tschentscher (SPD) wahrscheinliche Einflussnahme dieser beiden Spitzenpolitiker auf die Entscheidung des Hamburger Finanzamts, der Warburg-Bank die Zahlung eines höheren zweistelligen Millionenbetrags zu erlassen, zeigt nicht nur die enge Verflechtung der Eliten in Hamburg. Sie spricht auch dafür, dass man glaubte, sich nicht an die allgemeinen Regeln halten zu müssen. Dazu passt, dass Josef Joffe, langjähriger Herausgeber der Zeit, seinen Freund Max Warburg 2017 vor einem Artikel über die Verwicklung der Warburg-Bank in die kriminellen Cum-Ex-Geschäfte warnte und in diesem Zusammenhang die bei der Aufklärung mit Hinweisen dienlichen Bankmitarbeiter als Verräter bezeichnete.Von Managerkind zu ReederAuch hier spielen die engen Bindungen zwischen den Mitgliedern verschiedener Eliten und das Gefühl, eigene Regeln aufstellen zu können, die entscheidende Rolle. Schon früher konnte man ähnliches Verhalten der Politik gegenüber den reichen Reedern der Stadt beobachten. So erließ die HSH Nordbank, damals Hamburg und Schleswig-Holstein gehörend und später nach Übernahme von zweistelligen Milliardenschulden durch die beiden Länder zu einem Spottpreis privatisiert, dem Reeder Bernd Kortüm 2016 mehr als ein Viertel seiner über zwei Milliarden Euro Schulden. Das Pikante an der Sache war, dass Kortüm damals im Beirat der Bank saß, und das schon seit über zehn Jahren. Wirklich gestört hat das in den besseren Kreisen der Stadt niemanden. Kortüm gehörte bis zu seinem Tod 2021 zu ihren angesehenen Mitgliedern. Die Medien betonten in ihren Nachrufen fast unisono sein großes soziales Engagement.All diese Begebenheiten sind keine Einzelfälle, sondern Symptome einer grundsätzlichen Haltung. Dass die meisten Elitenmitglieder so wenig Gespür für die Lebensverhältnisse und die Stimmung der breiten Bevölkerung haben, hat zwei entscheidende Gründe. Zum einen zählen sie ausnahmslos zum obersten Prozent der Einkommensbezieher, verfügen also über ein Einkommen von mindestens 150.000 Euro pro Jahr. Zum anderen stammen sie (wie die Managerkinder Scholz, Annalena Baerbock und Schlesinger oder der Apothekersohn Robert Habeck) zu fast zwei Dritteln aus den oberen vier Prozent der Bevölkerung. Sie haben also schon in ihrer Kindheit und Jugend die Welt eher von oben betrachtet, mit den Lebensbedingungen der Bevölkerungsmehrheit nicht viel zu tun gehabt und die üblichen Einstellungen der bürgerlichen Kreise zu gesellschaftlichen Fragen, vor allem zu Einkommen, Vermögen und Steuern, quasi mit der Muttermilch aufgesogen.Die zögerliche, wenn nicht ablehnende Haltung der Bundesregierung gegenüber der Forderung, hohe Vermögen und Einkommen stärker zu besteuern, hat daher nicht nur mit der Blockadehaltung der FDP zu tun. Die soziale Herkunft und die Lebenswirklichkeit vieler führender Politiker in den anderen Parteien spielt dabei auch eine zentrale Rolle.Placeholder authorbio-1
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