Nazis auf Speed“, sang 2013 die Düsseldorfer Post-Metal-Band The Krupps. Irritierend wirkt die Schwarzweiß-Ästhetik ihres Videoclips: Fantasie-Uniformen, Pervitintablettenwerbung, Fabrikhallen, verfremdete Zeitzeugen- Schnipsel, Elektrobeat und knarrende Stimmen im Nazi-Jargon. Das ist gewiss nicht jedermanns Geschmack. Das Video zeigt aber, wie weit sich herumgesprochen hat, dass das zwölfjährige Grauen des Nazireichs auch aufputschende Drogen brauchte, damit die Menschen bis zur völligen Erschöpfung funktionierten.
Zur Lektüre hätten die Musiker in der Stiefel-Leder-Martial-Ästhetik auf die zweibändige Publikation Werner Piepers, Nazis on Speed – Drogen im 3. Reich von 2002/03, zurückgreifen können. Das epochale, aber umstrittene Sammelwerk brachte Quellenabdrucke, Zeitzeugen- und Schriftsteller-Statements, wissenschaftliche Essays und internationale Vergleiche zur Drogennutzung während des Weltkrieges und danach. Es ist leider nur noch antiquarisch greifbar.
Der Arzt des Führers
Der Journalist und Romanautor Norman Ohler legt nun mit Der totale Rausch – Drogen im Dritten Reich einen faktenreichen, in weiten Teilen spannend und anspielungsreich geschriebenen Überblick zum Drogenkonsum im Dritten Reich vor, speziell bei der Wehrmacht. Amphetamine, Koks, Schlafmittel und Opiate im Dauergebrauch. Wehrmachtsoffiziere, Panzersoldaten, Piloten und Seeleute unter Dröhnung für die Dauerwachheit während der Blitzkriege und zur allerletzten Euphorie in aussichtsloser Lage sind noch immer eher schwer verständliche Fakten. Dazu noch ein fixender Führer, an der immer einsatzbereiten Nadel seines skrupellosen Leibarztes Theodor Morell. Ihm und seinen geschäftstüchtigen Versuchen, unter anderem mit Schlachtabfällen aus der Ukraine ein Firmenimperium mit Protein-, Enzym- und Vitaminpräparaten aufzubauen, widmet Ohler viele Seiten.
Offiziell führte das NS-System unter SS- Arzt und Reichsgesundheitsführer Conti einen Kampf gegen Suchtmittel und Süchtige. Abhängige galten als genetisch minderwertige und volksschädigende Personen. Sie sollten „ausgemerzt“ werden. Wehe dem, der der „Reichszentrale für die Bekämpfung von Rauschgiftvergehen“ auffiel, in den Blick der Reichskriminalpolizei oder einer Gesundheitsbehörde geriet. Zwangsunterbringung, Zwangssterilisierung, in seltenen Fällen auch der Tod drohten. Hitler selbst hingegen hielt man für abstinent und unermüdlich in seiner Opferbereitschaft für das Volk.
Die Historikerbiografien und Gesamtdarstellungen zur Führung des Dritten Reiches (Joachim Fest, Ian Kershaw, Werner Maser, Sönke Neitzel) erwähnen den Drogenkonsum Hitlers, Görings und einiger anderer. Aber sie machen nicht viel daraus. Allerdings ist die Gefahr groß, mit einer NS- Drogen-Monografie nur die Kolportage um Blondi, Eva Braun, die schrecklichen Goebbels, den Morphinisten Göring, den dauergeblähten und ab 1941/42 dauererschöpften Hitler sowie sein zwölf Jahre lang treubraunes Volk zu vermehren. Glücklicherweise bietet Norman Ohler aber auch weniger bekannte und spektakuläre Einblicke. Zum Beispiel zu den völlig aussichtslosen Endkampf-Einsätzen der Marine. Diese schickte ihre Seeleute mit der Super-Durchhaltedroge D IX – einer Mischung aus Eukodal, Kokain und Methamphetamin – auf Mini- U-Booten und Schnellbooten in den fast sicheren Tod. Vorher hatte sie die Wunderdroge zu den Wunderwaffen noch an Konzentrationslagerhäftlingen getestet.
Soldier’s Little Helper: Pervitin und Benzedrin
Bis heute nutzen alle modernen Streitkräfte euphorisierende, wachhaltende und aktivierende Medikamente. Eine lange und bemerkenswert ideologieunabhängige Tradition wird so kontinuierlich fortgesetzt. Während des Zweiten Weltkrieges erwarb das Dritte Reich mindestens 35 Millionen Tabletten Pervitin, Großbritannien und die Vereinigten Staaten je circa 75 Millionen Einheiten Benzedrin. Ihr Einsatz ist für alle Seiten mittlerweile gut belegt.
Pervitin ist ein alter Markenname für Methamphetamin. Das substanzgleiche, illegal produzierte Crystal Meth wird heute geraucht, inhaliert, als weißes Pulver in einer Line gesnieft oder mit Spritzbestecken intravenös gefixt. In Europa gilt derzeit Tschechien als einer der Hauptproduktionsorte. Wie alle Amphetamine greift das Methamphetamin gleichzeitig in den Stoffwechsel der Neurotransmitter Dopamin, Noradrenalin und Serotonin ein. Es kommt zu einer allgemeinen Verstärkung in diesen Transmittersystemen, bei längerem Gebrauch zu deren Erschöpfung.
Benzedrin (DL-Amphetamin) gilt als synthetischer Urstoff aller weiteren Amphetamin-Abkömmlinge. Es wurde 1932 in den USA entwickelt und 1937 erstmals versuchsweise zur Therapie hyperaktiver Kinder eingesetzt. Grundsätzlich fallen die Wirkung und unerwünschte Nebenwirkungen ähnlich denen des Methamphetamins aus.
Verpasst man was, wenn man die Drogengeschichte des Dritten Reiches nicht kennt? Ja! Ohlers immer faktengestützte, „unkonventionelle, verzerrte Perspektive“ deckt jedoch weniger die drogeninduzierten Fluchten in Fantasiewelten auf – das gilt allenfalls für die Bunkergesellschaft Hitlers – als den erschreckend effizienten, skrupellos-modernen Anteil des NS-Staates, der alle Reserven nutzt. Sein Vorwort, einem Arztbericht mit Rezeptempfehlung nachempfunden („für Kinder unzugänglich aufbewahren“), wirkt da wie ein unnötiger Gag. Der Autor gestattet sich Rückblicke zur Drogengeschichte vom 19. Jahrhundert bis in die Weimarer Republik und zur überaus erfolgreichen deutschen Pharmakaproduktion. Zu umfänglich geraten sind Abschnitte zum Kriegsverlauf, zu militärischen Entscheidungen (Dünkirchen) und später auch die Beschreibung des „Untergangs“, die ja weitgehend bekannt ist.
Weimarer Kontinuität
Gegen Drogen ging der NS-Staat weniger streng und systematisch vor, als es Ohler annimmt. Die Politik der gehassten Weimarer Republik setzte man fort. Diese hatte, internationalen Verpflichtungen folgend (Genfer Verträge, Völkerbund) gegen die Interessen der marktführenden Pharmaindustrie (Merck, Bayer, Temmler), Gesetze verschärft. Deutschland galt dennoch, nicht zu Unrecht, als liberal und duldsam in Drogenfragen. Die sozialen Probleme im Zusammenhang mit verschiedenen Suchtmitteln waren vergleichsweise gering. Alkoholiker verfolgten die Nazis, zivil und militärisch, mitunter deutlich zielstrebiger und härter.
Fritz Hauschilds Erfindung Methamphetamin, heute in seiner kristallinen Form illegal als Crystal Meth verkauft, war bis in den Zweiten Weltkrieg hinein in Apotheken frei verkäuflich. Unter dem Markennamen Pervitin vertrieb die teilarisierte Firma Temmler die Tablettenröhrchen mit blauem Schriftzug und bewarb ihr Produkt mit auffälliger Reklame. Der einfache Soldat Heinrich Böll erbettelte es sich zum Beispiel regelmäßig aus der Heimat. Erst 1939 wurde die Substanz rezeptpflichtig und fiel ab 1941 unter das Reichsopiumgesetz.
Pervitin war eine Weiterentwicklung aus Ephedrin. Es galt 1937 als deutsche Antwort auf Benzedrin aus den USA. Anders als der drogenkochende Highschool-Lehrer Walter White aus Breaking Bad entwickelte es Hauschild nicht zu kriminellen Zwecken. Er erstrebte Linderung bei damals therapeutisch schwer oder nicht behandelbaren, meist chronischen Krankheiten (Lungentuberkulose, Asthma) und bei Kriegsversehrten. Es sollte gegen Depressionen, Antriebslosigkeit und gegen Schmerzen bei fortgeschrittenen, final bösartigen Leiden, akuten Verletzungen und generalisierten Entzündungen helfen.
Der Erfolg von Pervitin gründete sich auf seine pharmakologische Überlegenheit, eine größere Wirkstärke und gleichzeitig eine große therapeutische Breite: Bevor es einen umbringt oder schwer schädigt, muss man auch vergleichsweise viel davon nehmen. Die schlechten Seiten, zivil und militärisch, lernte man erst aus dem Gebrauch kennen. Otto F. Ranke, Leiter des Instituts für Wehrphysiologie der Militärärztlichen Akademie, an der die Sanitätsoffiziere der Wehrmacht ausgebildet wurden, empfahl Pervitin für den Kampfeinsatz. Anschaulich schildert Ohler die Reihentests, bei denen sich Methamphetamin gegenüber Benzedrin und Koffein als überlegen erwies.
Die Mängel des systematischen Dopings, damals weltweit selbst beim Sport noch kein unerwünschtes und gesellschaftlich verbotenes Tun, wurden aber ebenfalls sichtbar. Der Stoff reduzierte die Abstraktionsfähigkeit und komplexe kognitive Eigenschaften. Er machte Versuchsteilnehmer unfähig zu einer realistischen Selbsteinschätzung. Probanden, wie später auch die Soldaten an der Front, blieben zwar wach und maschinengleich leistungsfähig, aber sie überschätzten sich.
Die schädlichen Langzeiteffekte und das Abhängigkeitspotenzial der Substanz wurden zunächst aber nicht ausreichend untersucht und traten erst zutage, als sich das frei verkäufliche Mittel unter Sanitätspersonal und Soldaten, aber auch bei Privatleuten immer weiter als Euphorisierungsmittel bei Stress und Übermüdung durchgesetzt hatte. Es kam zu Überdosierungen und Suchtfällen, besonders unter Medizinern.
Die wichtigste Frage aber: War der Drogenkonsum entscheidend für die Art und Weise der nationalsozialistischen Politik und den Verlauf des Krieges? Ohler betont selbst, dass die euphorisierenden Substanzen nur den Willen stärkten, den überzeugte Nazis vorher schon hatten. Totale Herrschaft, Krieg, Lebensraumpolitik, Rassewahn, Eugenik und Judenverfolgung waren unumstößliche Elemente des NS-Systems. Mochten sich dafür Funktionärs- und Militäreliten nun berauschen und ihre Soldaten dopen – oder auch nicht.
Info
Der totale Rausch – Drogen im Dritten Reich Norman Ohler Kiepenheuer & Witsch 2015, 368 S., 19,99€
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