Der Staat im Kapitalismus kann theoretisch den Markt nicht ersetzen, praktisch aber schon. Und genau das passiert, wenn Merkels 500-Milliarden-Euro-Rettungspaket Teile der Finanzwirtschaft quasi vom Markt befreit.
Eherne Dogmen zuhauf werden als Ideologieschrott entsorgt, wenn die Kanzlerin zu ihrem wirtschaftspatriotischen Rettungsaktionismus ausholt. Noch vor Wochen zog der Ruf nach staatlichen Konjunkturhilfen Spott und Häme nach sich. Wirtschaftliche Vernunft wurde zur Geisel von Glaubensbekenntnissen, wie sie aus dem Munde von Finanzminister Peer Steinbrück besonders pfäffisch klangen. Die Verantwortung des Staates gegenüber dem Wirtschafts- und Finanzsystem hatte vorzugsweise in Enthaltsamkeit zu bestehen. Der Staat gönnte sich die Freiheit des Rückzugs und sonst nicht viel an Wirtschaftspolitik - und schon plätscherte der Beifall der BDI- und BDA-Lobbyisten.
Ist diese Pflicht zum Verzicht nicht mehr zeitgemäß? Im Augenblick sei sie schlichtweg lebensgefährlich für das hiesige Gemeinwesen, sagt uns die Bundesregierung mit ihrem 500-Milliarden-Euro-Paket, das im Eiltempo durch die parlamentarischen Beratungen gejagt und seit Beginn der Woche dank eines im Kabinett verabschiedeten Durchführungsgesetzes zum Versand bereit steht.
Die Hilfsmaßnahmen für die Finanzbranche sind nach parteiübergreifendem Dafürhalten unumgänglich und notwendig. Doch sollte man es bei diesem Fazit nicht bewenden lassen, sie sind auch die Quittung für wirtschaftsliberale Gutgläubigkeit. Die Regierung, die von sozialdemokratischer Agenda-Gefolgschaft und christdemokratischem Wirtschaftsgehorsam geprägt ist, war von dieser Gutgläubigkeit bisher über Gebühr befallen. Diese Haltung war Kampfansage für jeden, der noch für eine soziale Balance in dieser Gesellschaft eintritt.
Bis zu 80 Milliarden Euro aus dem Notprogramm fließen bekanntlich direkt in die Bankenkapitalisierung. Als erstes Institut hat die BayernLB angekündigt, sich unter den so genannten Schutzschirm stellen zu wollen, andere folgen. In der angeschlagenen Finanzbranche besteht kein grundsätzliches Interesse, sondern ein existenzieller Zwang, die Alimentierung in Anspruch zu nehmen, auch wenn einige Institute nicht zu Unrecht fürchten, an Börsenwert und Statur zu verlieren, sobald sie den Offenbarungseid leisten und die staatliche Hilfe in Anspruch nehmen. Das Ganze bereitet vor auf einen Gladiatoren-Kampf in der Branche, bei dem die Schwachen stigmatisiert werden, bevor es überhaupt losgegangen ist: Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann, der als einer der ersten nach dem Notanker rief und an den Krisensitzungen der Regierung in der vergangenen Woche beteiligt war, ließ sich mit den Worten zitieren, er würde sich "schämen", in der Krise Staatsgeld anzunehmen. Steinbrücks Entrüstung darüber grenzt an Schizophrenie und versinnbildlicht die in seiner Person überzeugend angelegte Ersetzung von Politik durch Laienspiel.
Die schrullige Aufwallung über Ackermann kann nicht darüber hinweg täuschen, was die Bundesregierung dem Verfassungsauftrag schuldig bleibt. Sie müsste im Falle der direkten Kapitalhilfe für ein Kreditinstitut, auf die von der Bundeshaushaltsordnung vorgeschriebene Präsenz in dessen Aufsichtsrat oder einem vergleichbaren Gremium bestehen. Nichts dergleichen zeichnet sich bisher ab und wird auch durch die am Montag im Kabinett beschlossene Finanzmarktstabilisierungsverordnung nicht kompensiert. Stattdessen kann der Finanzminister - vermutlich in Abstimmung mit dem Kanzleramt - allein entscheiden, wem er wie und wann die Bilanzen auffrischen will, solange nicht mehr als zehn Milliarden Euro fließen. Der Bundestag mit seiner Haushaltshoheit bleibt außen vor - das Marktversagen im nahtlosen Übergang zum Demokratieversagen.
Wie viel nun von der 400-Milliarden-Euro-Garantie für den Kapitalverkehr der Banken untereinander gebraucht wird, lässt sich bisher nicht absehen. Aber dass die Bundesregierung auch hier mit einem Aderlass rechnet, zeigt die Ankündigung des Finanzministeriums, das mit dem ausgeglichenen Haushalt bis 2011 habe sich erst einmal erledigt. Wer wird dafür aufkommen?
Jetzt erst begreifen wir, was uns in Merkels letzter Neujahrsansprache in hilfsbedürftigem Deutsch mit dem zentralen Satz - "Überraschen wir uns, was möglich ist" - als Botschaft verabreicht wurde: Die Verluste der Banker werden nun eiskalt sozialisiert, obwohl ihre schwindelerregenden Gewinne jahrelang privatisiert und von der schwarz-roten Regierung wie ihrer rot-grünen Vorgängerin noch steuerlich belohnt wurden. Das hat den Staat finanziell austrocknen lassen, der nun von den selben Leuten ausgenommen wird.
Mit zuweilen hysterischem Crescendo wird hierzulande gern die vermeintliche Vollkasko-Mentalität von Rentnern, ALG-I- oder Hartz-IV-Empfängern gerügt. Nun erleben wir, welche Vollkasko-Mentalität eine ganze Branche entfalten kann. Scheitern nicht als Absturz. Scheitern auch nicht als Chance. Scheitern als Anspruch auf Milliarden-Bürgschaften und Liquiditätshilfen, die in der Summe über den aktuellen Bundeshaushalt von 283,2 Milliarden Euro Gesamtausgaben weit hinausgehen.
Wie schrieb Kurt Tucholsky anno 1927: "Du kannst den Bankier werfen, wie du willst. Er fällt immer auf dein Geld."
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