In der Windstille des Nichtwahlkampfs wirkt die Prognose von Finanzminister Wolfgang Schäuble, 2014 werde ein drittes Hilfspaket für Griechenland unvermeidlich, fast schon wie ein frischer Luftzug. Endlich brach ein Spitzenpolitiker die Omertà über das, was nach dem 22. September auf die Wähler zukommen werde – neue Lasten für den Staatshaushalt, das mögliche Zerbrechen der Euro-Zone und damit des deutschen Export- und Wohlstandsmodells? Weil offiziell nicht darüber gesprochen wurde, wuchs das nichtöffentliche, aber unverkennbare Unbehagen. Schäubles Äußerung war wohl als eine Art Ventil gedacht: Statt eines GAU wurde die Wiederholung einer Aktion angekündigt, die man ja schon zweimal überstanden hatte. Insofern ma
machte er dann eben doch Wahlkampf, auch dadurch, dass er der Kanzlerin und Bayerns Ministerpräsidenten Horst Seehofer eine Vorlage gab: Sie konnten mit ihrer ablehnenden Reaktion etwas für ihre Popularität tun.Rettungspakete für klamme Staaten sind keine Herzensangelegenheit Wolfgang Schäubles. 1994 trat er mit seinem Parteifreund Karl Lamers für ein „Europa der zwei Geschwindigkeiten“ ein. Eine Währungsunion, die heute aus Zentrum und Peripherie besteht, passt nicht recht dazu. Aber jetzt ist es nun einmal passiert. Und Schäuble erscheint als der loyale Sachwalter von Verhältnissen, die er so nicht gewollt hat und aus denen nicht mehr das Beste, sondern nur noch das gerade Mögliche gemacht werden kann. Als 2010 die Eurokrise ausbrach, erweckte er zunächst – ebenso wie die Kanzlerin – den Anschein, als könne Griechenland nicht geholfen werden, und nahm dabei das Image des hässlichen Deutschen in Kauf, zumal dies im Inland gut ankam. Anschließend fanden Merkel und er sich zu Kompromissen bereit. Als Grund hierfür wurde der Sachzwang bemüht: Systemrelevante Banken dürften nicht aufgegeben werden, da sonst auch Pensionskassen und Ersparnisse kleiner Leute ruiniert würden. Es war die Berufung auf die Märkte als übergeordnete Macht, der die Politik nur gehorchen könne.Das Krisenmanagement brachte für Schäubles politisches Konzept einen doppelten Kollateral-Nutzen. Zunächst einmal ist mit dem Regime der Troika und der starken Stellung Deutschlands als eines sogenannten Geberlandes nun doch ein Arrangement von Zentrum und Peripherie hergestellt, jedoch nicht territorial, sondern institutionell. Dem schwachen Süden wird ein wesentlich von der Bundesrepublik bestimmtes Programm diktiert.Außerdem sind die Rettungsaktionen zugunsten von Gläubigern schwacher Staaten vor allem eine Angelegenheit nationaler und internationaler Exekutiven, deren Entscheidungen von den Parlamenten nur noch nachvollzogen werden können. Dies entspricht dem Politikverständnis Wolfgang Schäubles, wie er es in seiner bisherigen Laufbahn realisierte. Als Bundesinnenminister hielt er es 2005 für denkbar, die Aussagen von im Ausland Gefolterten für Zwecke der inneren Sicherheit zu nutzen. Auch mochte er im Extremfall beim Kampf gegen den Terrorismus den Abschuss von Zivilflugzeugen nicht ausschließen. Er wollte dem Staat zudem einen exzessiven Zugriff auf Daten der Bürger ermöglichen. Zu Recht empörte er sich darüber, dass Kritiker seinen Perfektionismus beim Umgang mit der inneren Sicherheit damit zu erklären versuchten, dass er selbst 1990 Opfer eines Attentats gewesen sei. Sie verkannten damit die Substanz dieses Politikers.Wolfgang Schäuble ist zwar derzeit dienstältester Abgeordneter des Bundestages, aber er denkt Politik von der Exekutive her. Das Wesensmerkmal des Parlamentarismus – Erwägung und Entscheidung in der Debatte – ist für ihn durch unabänderliche äußere Zwänge begrenzt: durch Prioritäten der inneren und äußeren Sicherheit und Erfordernisse der Finanzmärkte. Politik hat ihnen gegenüber nur eine dienende Funktion, die Exekutive heißt deshalb so, weil sie Vorgegebenes exekutiert. Ihre Unanfechtbarkeit lässt sich durchaus auch mit plebiszitären Elementen ausstaffieren: Wolfgang Schäuble befürwortet etwa eine Direktwahl des EU-Ratspräsidenten.Als konservativ gilt er, weil er traditionelle Werte aus dem CDU-Fundus in Ehren hält: Familie, Heimat, Nation. Der starke Staat legitimiert sich dadurch, dass er sie schützt und der Sehnsucht vieler Menschen nach äußerer und innerer Sicherheit entgegenkommt. Die felsenfeste Überzeugung, das Richtige zu tun, kann auch skrupellos machen: Schäuble nahm vom Waffenhändler Schreiber eine Spende von 100.000 D-Mark für seine Partei an. Er mag das tatsächlich für eine Lappalie gehalten haben: Bei der CDU war das Geld besser aufgehoben als beim Spender. Die Affäre kostete ihn 2000 den Parteivorsitz. Kanzler konnte er ebenfalls nicht werden: Erst blieb Kohl zu lange, dann kam Schröder. Dass er nach Niederlagen und mit schwerer Behinderung in der ersten Reihe der Politik aushält, macht ihn zu einem erstaunlichen Beispiel von willensstarker Selbstbehauptung.Im September wird er 71 Jahre alt. Es wird darüber spekuliert, wie lange er einem weiteren Kabinett Merkel noch angehören könnte. Ein Mann von gestern ist er keinesfalls. Der britische Sozialwissenschaftler Colin Crouch hat der aktuellen bürgerlichen Gesellschaft den Übergang zur Postdemokratie diagnostiziert: Politik nicht mehr als Wahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten, sondern nur noch als Unterordnung unter das Diktat von Märkten, das von einer Exekutive abgesichert wird. Insofern ist Wolfgang Schäuble – wer seine heutige Funktion künftig auch übernehmen mag – durchaus ein moderner Politiker.