Vom Kopf auf die Füße

Debatte Das Thema Flüchtlinge wird im Wahlkampf mit überzogener Dramatik, falschen Grundannahmen und wenig konkreten Vorschlägen diskutiert. Das sollte sich ändern
Die Ankunft der Flüchtlinge war nicht wegen ihrer Zahl problematisch
Die Ankunft der Flüchtlinge war nicht wegen ihrer Zahl problematisch

Foto: Carlo Hermann/AFP/Getty Images

Migration sei eine Jahrundertherausforderung, da sind sich die Kanzlerin und viele Kommentatoren einig. Der Münchner Ex-Oberbürgermeister Christian Ude spricht sogar von Migration als einer Schicksalsfrage. Die politische Zeitrechnung kennt nun ein vor und ein nach 'der Flüchtlingskrise'. Die aktuelle Debatte ist gekennzeichnet von überzogener Dramatik, vielen falschen Grundannahmen und wenig konkreten Vorschlägen für eine nachhaltige Politik. Im Zentrum steht nicht das vermeidbare Chaos bei der Aufnahme von Flüchtlingen im Jahr 2015, sondern ihre Zahl. Will man Rationalität in die Debatte bringen, muss man sich zunächst diese Zahl anschauen.

Kena Betancur/AFP

Eine Replik auf den Artikel "Die Jahrhundertaufgabe" von Albrecht von Lucke (Ausgabe 35/17), der ein Umdenken Europas in seiner Wirtschaftspolitik mit Afrika fordert.

Im sogenannten Krisenjahr wurden in der gesamten EU 1,3 Millionen Asylanträge gestellt. Davon erhielten 806.000 Flüchtlinge einen Schutzstatus und damit die Möglichkeit, länger in der EU zu bleiben. (2016 sah es ähnlich aus, seit dem sinken die Zahlen stark.) Das sind 0,16 Prozent Bevölkerungszuwachs, die objektiv betrachtet von einer hoch organisierten, wohlhabenden Staatengemeinschaft gut verkraftbar sind. Probleme gab es mit der Verantwortungsteilung und einer schlecht vorbereitete Administration. Beides wäre vermeidbar gewesen: Bereits im Sommer 2014 hatte der damalige UN-Flüchtlingskommissar António Guterres die EU aufgefordert, ihre Aufnahmeprogramme auszudehnen, weitere legale Einreisemöglichkeiten zu schaffen und Registrierungszentren einzurichten, um unkontrollierte Einreisen in großem Ausmaß und gefährliche Wege mit Schleppern zu vermeiden. Nichts passierte. Es gibt eine EU-Richtlinie, die eigens für solche Situationen geschaffen wurde (2001/55/EG). Sie regelt unabhängig von den nationalen Asylgesetzen und jenseits des Dublinsystems die kurzfristige Aufnahme hoher Flüchtlingszahlen, einschließlich der Lastenverteilung unter den Mitgliedstaaten. Sie wurde nicht angewandt. Die Situation in den unterfinanzierten Flüchtlingslagern der Nachbarländer Syriens verschlechterte sich, genauso wie die Aussichten auf Rückkehr. Also machten sich die Flüchtlinge auf den Weg.

Eine Alternative zur Abschottung

All das wird in der Debatte außen vorgelassen. Die Erzählung beginnt erst bei Merkels Entscheidung, die Aufgebrochenen nicht aufzuhalten. Eine Auseinandersetzung über das Politikversagen davor findet nicht statt.

Auch in Deutschland war die Ankunft der Flüchtlinge nicht wegen ihrer Zahl problematisch, sondern weil sie auf eine problematische Situation traf, die Folge verfehlter Politik ganz anderer Art ist: Mangel an erschwinglichem Wohnraum; unterfinanzierte Schulen, Ehrenamtliche, die staatliche Aufgaben erfüllen müssen und Verwaltungen, die wegen massiver Personalkürzungen unter Stress stehen. Die Flüchtlingsaufnahme verschärfte diese Probleme, sie schuf sie nicht. Die Ausgaben für Flüchtlinge, die heute nur noch als Belastung thematisiert werden, wurden noch 2016 von Ökonomen als begrüßenwertes Konjunkturprogramm betrachtet. Gleichzeitig entstand eine faszinierende vitale Zivilgesellschaft. Noch heute gibt es in der Flüchtlingsunterstützung mehr Engagierte, als die AfD Mitglieder hat. Sie finden aber kaum noch mediale Beachtung. Stattdessen wird mit Verweis auf Umfragewerte unisono behauptet, die Aufnahmebereitschaft sei erschöpft und unterstellt, die neuesten Vorstöße in der Abschottungspolitik seien eine folgerichtige Reaktion darauf.

Die Abschottungspolitik ist weder neu, noch alternativlos. Ihr schärfstes Instrument ist der Visumzwang und seine extrem restriktive Handhabung. Zäune und Kriegsschiffe sind nur die spektakuläre Folge davon. Gegenüber Menschen aus Herkunftsländern potenzieller Asylbewerber ist die Visapolitik der Schengenstaaten so restriktiv, dass eine reguläre Einreise kaum möglich ist. Das Ergebnis: einerseits können Flüchtlinge nicht legal einreisen, andererseits wird das Asylsystem zur einzigen Zugangsmöglichkeit für Arbeitsmigration. Wer die irreguläre Einreise geschafft hat, versucht sich so lange wie möglich in Europa zu halten, weil es keine zweite Chance gibt, wieder herzukommen. Statt legale Zugangsmöglichkeiten für Flüchtlinge zu schaffen und Kontingente für temporäre Arbeitsmigration bereitzustellen, - Migration also zu regeln- , wird mantraartig wiederholt: erst wenn die irreguläre Migration unterbunden sei, könne man reguläre zulassen. Das Problem der Europäischen Union ist das Fehlen einer schlüssigen Migrationspolitik, nicht die Migration.

Als Jean-Claude Juncker 2014 seine Amtszeit antrat, war eines seiner erklärten Ziele, den Zugang zum europäischen Arbeitsmarkt und Einwanderungsmöglichkeiten in die EU zu verbessern. Nichts ist passiert. Aber in den Mitgliedstaaten wurde das Aslyrecht mit dem Verweis auf seine Instrumentalisierung für Arbeitsmigration immer weiter ausgehöhlt. Merkels aktuelle Ankündigung, legale Zugangsmöglichkeiten für Flüchtlinge zu schaffen, sind vage Absichtserklärungen, die kein Vertrauen erwecken. Schließlich wurden in der Vergangenheit sogar konkret vereinbarte Resettlement- und Umverteilungszusagen nicht umgesetzt. Stattdessen wurde die Abschottung Europas vorangetrieben.

Versäumte Chancen

Die EU-Türkei-Vereinbarung stellte eine neue Wegmarke in der Abschottungspolitik dar. Erstmals wird der Schutz von Flüchtlingen, die Europa erreicht haben, offiziell an einen Drittstaat delegiert und dabei Verstöße gegen internationale Konventionen und die Europäische Menschenrechtskonvention billigend in Kauf genommen. Die jetzige Absichtserklärung von Macron, Asylverfahren auf den afrikanischen Kontinent auszulagern, geht noch weit darüber hinaus. Um Menschen fernzuhalten wird zwischen Tschad, Niger und Libyen mit Geldern, Ausstattung und Personal eine Grenzregime errichtet, das die Weiterreise von Flüchtlingen und Migranten nach Europa unterbinden soll. Die Gelder, die dort hinfließen, dienen nicht der viel beschworenen Fluchtursachenbekämpfung, sondern dazu, die dortigen Eliten in die europäische Migrationsabwehr einzubinden.

Die EU gibt Italien Rückendeckung für die Unterstützung von Milizen in Libyen, die Flüchtlinge an der Küste abfangen und in Lagern festsetzen. Die Zustände dort sind sattsam bekannt. Es ist auch bekannt, dass es in Libyen keine stabile, national anerkannte Regierung gibt. Trotzdem wird zur Flüchtlingsabwehr mit Milizen gearbeitet, die zur weiteren Destabilisierung des Landes beitragen.

Die Auslagerung des Flüchtlingsschutzes ist seit über zehn Jahren die dominante Strategie der europäischen Flüchtlinsgpolitik. Sie schließt die Zusammenarbeit mit international geächteten Regimen wie Eritrea und Sudan und Diktaturen wie Tschad ein. Die politischen Folgen davon sind unabsehbar. Die Behauptung, nur so könnten Menschen vor dem Ertrinken im Mittelmeer oder dem Sterben in den Transitwüsten geschützt werden, ist falsch und zynisch. Die menschenrechtliche Bindung der EU, ihr ethisches Fundament, wird mit dieser Politik grundsätzlich in Frage gestellt.

In der EU gab und gibt es keine Flüchtlingskrise, sondern eine Krise der Solidarität der Mitgliedstaaten, Flüchtlinge aufzunehmen und gleichmäßig zu verteilen. Von Flüchtlingkrise kann man im Libanon sprechen oder im Jemen, diesem kriegszerrütteten Land mit einer der bisher schwersten Choleraepedemien, in dem sich nach Schätzungen des IOM 1,7 Millionen Flüchtlinge vor allem aus Äthiopien und Somalia aufhalten und nicht versorgt werden können.

Europa kann dagegen selbstverständlich mehr Menschen aufnehmen, sowohl Flüchtlinge als auch Arbeitsmigranten. Es ist ökonomisch und strukturell dazu in der Lage. Die Abschottung wird nicht dazu führen, dass Migration nach Europa aufhört. Die Abschottungspolitik aber wird dazu führen, dass die Routen noch gefährlicher werden, dass repressive Regime stabilisiert und instabile Regionen militarisiert werden. In dem Kontext könnte man den Umgang mit Migration tatsächlich als Schicksalsfrage bezeichnen.

Barbara Lochbihler ist Sprecherin der Grünen/EFA-Fraktion im Europäischen Parlament und Vizepräsidentin des Menschenrechtsausschusses

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