Vom Leben an vielen Orten

Arbeitsmarkt Inländer haben Vortritt – die deutschen Gewerkschaften sind für eine moderne Migrationspolitik eher Bremsen als Motoren. Das sollte sich ändern
Ausgabe 35/2015

Drei Gruppen von Migranten nach dem Zweiten Weltkrieg lassen sich in Deutschland grob erfassen: Heimatvertriebene, „Gastarbeiter“ und ihre Familien sowie Flüchtlinge und Asylbewerber vor allem seit den 1980er Jahren, die als Geduldete oft in Deutschland bleiben. Seit geraumer Zeit kommen erneut Flüchtlinge. Mit deren mittel- und langfristiger Ansiedlung sollte man rechnen.

Mental hat sich die deutsche Gesellschaft lange auf Verleugnung dieser Fakten verlegt. Heute ergibt sich ein differenziertes Bild: Während moderne Sozialmilieus und der größte Teil der globalisierten Volkswirtschaft sich auf Einwanderung nicht nur eingestellt haben, sondern sie regelrecht fördern wollen, verhärten sich bei den Menschen Ressentiments, die sich als Modernisierungsverlierer und sozial isoliert fühlen und die auch den Wettbewerbsdruck einer globalen Ökonomie spüren.

Arbeitnehmerparteien und Gewerkschaften gehörten oft zu den distanzierten Beobachtern. Ausländische Arbeitskräfte wurden von Unternehmen oft als Lohndrücker eingesetzt – sie waren in der Regel weniger gut ausgebildet, sie hatten sprachliche und andere Nachteile, sie waren schwerer in Arbeitnehmervertretungen zu organisieren und häufig ethnisch zersplittert. Gewerkschaften und Sozialverwaltungen haben viel unternommen, um solche Verhältnisse zu überwinden und ausländische den deutschen Arbeitnehmern gleichzustellen.

Doch um Lohn- und Sozialdumping zu verhindern, aber auch um die eigenen Mitglieder vor Lohnkonkurrenz zu schützen, befürworten Gewerkschaften neben dem Mindestlohn generell einen Inländerprimat auf dem Arbeitsmarkt. Der verordnet, dass für frei werdende Stellen zunächst Deutsche, Arbeitnehmer aus dem Europäischen Wirtschaftsraum sowie Ausländer mit einer Arbeits- und Aufenthaltsberechtigung berücksichtigt werden.

Claus Leggewie ist Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen. Dieser Text ist seinem Beitrag im Sammelband Arbeit der Zukunft (Campus Verlag) entnommen

Der Inländerprimat hat untragbare Beschäftigungsverhältnisse und das besonders Nichtdeutschen aufgedrückte Prekariat nicht verhindern können. Die Aufgabe von Interessenvertretern der Arbeitnehmer und Selbstständigen müsste eher sein, gleiche, gerechte und transparente Verhältnisse für alle auf dem Arbeitsmarkt durchzusetzen. Statt ausländische Arbeitnehmer fernzuhalten – ein ohnehin weitgehend illusorisches Vorhaben –, geht es darum, die Arbeitsmarktintegration in Deutschland und Europa zu verbessern.

Nicht Verdrängung angestammter Arbeitsplätze ist hierzulande das Problem, auch nicht die Belastung des Wohlfahrtsstaates. Vielmehr können Arbeitsplätze hoher Qualität angesichts des Geburtenrückgangs mit inländischen Arbeitskräften nicht besetzt werden. Eine zukunftsorientierte Einwanderungs- und Inklusionspolitik muss daher zweierlei fördern: dass qualifizierte Einwanderer Netzwerke bilden, die ihnen ein Leben in der Fremde erleichtern, und dass die Nachkommen der ersten Einwanderer- und Flüchtlingsgeneration endlich bessere Bildungschancen für einen nachhaltigen sozialen Aufstieg bekommen. Migration entfaltet ihre Wohlstandswirkung besonders dann, wenn soziale Transferleistungen vermieden werden können.

Transnationales Deutschland

Ganz außerhalb ökonomischer Nutzenüberlegungen muss die Aufnahme von Flüchtlingen in Europa und Deutschland stehen. Der Migrationsdruck nimmt erheblich zu, worauf die Verwaltungen, aber auch die Bürgergesellschaft sehr schlecht eingestellt waren. Es dürfe sich von selbst verstehen, dass sich Gewerkschaften hier nicht abschotten, sondern solidarisch an einer humanen Flüchtlingspolitik mitwirken.

Eine neue Willkommenskultur schließt die Anerkennung einer post- und transnationalen Interkulturalität der deutschen Gesellschaft ein: Das Wanderungsverhalten heute stellt weniger ein Leben „zwischen den Stühlen“ von Herkunfts- und Aufnahmeland dar als vielmehr ein Leben an vielen Orten und in einer Diaspora. Migrationspolitik steht daher im Zentrum des Nachdenkens über eine neue Ordnung der Arbeit und ein neues Paradigma vom Wohlfahrtsstaat, der nicht mehr allein auf ökonomisches Wachstum und kompensatorische Sozialtransfers setzt, sondern Menschen aller Herkunft und Religionen ein Leben in Würde ermöglicht.

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