Die Handschuhe hat er heute vergessen. Aber Sebastian ist nicht zimperlich und greift, ohne zu zögern, mit bloßen Händen in die Mülltonne. Er muss nicht viel wühlen bis er zwei Milchtüten, zwei Becher Joghurt, eine Tomate, eine Orange und einen Chinakohl aus den Tiefen der Tonne herausfischt. Mit Hilfe seiner Taschenlampe sucht er zwischen angeschimmelten Zucchini und altem Brot, was sonst noch essbar ist.
Kochen als politische Aktion
Immer dienstags geht Sebastian in Düsseldorf „containern“, das heißt, er durchsucht die Müllcontainer von Supermärkten nach Lebensmitteln. Er weiß, dass es der beste Abend in der Woche ist. Dann stellen die Geschäfte die grünen Tonnen mit den Resten heraus, die zur Verwertung in der Bi
erwertung in der Biogasanlage eingesammelt werden. Der 34 Jahre alte Tontechniker ist finanziell nicht aufs Mülltauchen angewiesen. Aber er will nicht akzeptieren, dass Unmengen von Lebensmitteln täglich vernichtet werden. „Mir geht es gegen den Strich, dass Waren in der Mülltonne landen, statt Menschen satt zu machen.“Damit ist Sebastian einer von vielen Menschen, die im Containern eine Möglichkeit sehen, sich den Mechanismen der Wegwerfgesellschaft zu entziehen. In der linksalternativen Szene in Deutschland ist die Praxis weit verbreitet. In so genannten Volxküchen werden häufig aus Mülltonnen gesammelte Lebensmittel angeboten. Vermutlich schwappte das dumpster diving aus den USA nach Europa über. 1980 machte die Organisation Food not Bombs in Massachusetts zum ersten Mal das öffentliche Kochen von aussortierten Lebensmitteln zu einer politischen Aktion. Damit wollten die Friedensaktivisten auf die Widersprüche einer Gesellschaft aufmerksam machen, die auf der einen Seite Überfluss und auf der anderen Krieg und Hunger produziert. Für viele Mülltaucher auf der ganzen Welt ist das Containern seither zum Teil eines konsumkritischen Lebensstils geworden.Sebastian hat das Mülltauchen erst vor kurzem für sich entdeckt. Im Autonomen Zentrum, in dem er sich in seiner Freizeit engagiert, besuchte er im Herbst eine Veranstaltung über Lebensmittelverschwendung. Die Bilder von vollen Supermarkt-Mülltonnen, die dort gezeigt wurden, haben seinen Ehrgeiz geweckt. „Ich konnte es erst gar nicht glauben“, erinnert sich Sebastian. „Und ich habe mich dann hier im Viertel umgesehen, ob das alles so den Tatsachen entspricht. Ich war dann schon überrascht, dass das so viel ist.“Wühler unerwünscht Mittlerweile hat Sebastian eine feste Tour. Sie beginnt an einem Discounter in Düsseldorf-Flingern. Hier hat er schon oft gute Erfahrungen gemacht. Aber heute ist die Ausbeute schwach. Das liegt sicher daran, dass er spät gekommen ist. Die guten Sachen sind schnell weg. Manchmal trifft er unterwegs andere Mülltaucher. Auch solche, die nicht aus politischer Motiven ihr Abendessen aus dem Abfall holen. Letzte Woche traf er einen älteren Herren. „Der wirkte auf mich so, als ob er darauf angewiesen wäre. Da habe ich ihm gerne die besten Sachen da gelassen“ Während Sebastian die zweite Mülltonne inspiziert, brennt im Büro hinter ihm das Licht. Der Supermarkt ist noch geöffnet. Angst davor, mit den Angestellten in Konflikt zu geraten, hat Sebastian aber nicht.Dabei gilt in Deutschland das Wühlen in fremden Tonnen als Diebstahl. Nach deutschem Recht gehört der Müll so lange dem Supermarkt, bis er von der Müllabfuhr abgeholt wird. Vor einigen Jahren wurde in Köln eine Mülltaucherin sogar angeklagt. Aber Sebastian will nicht so recht glauben, dass er sich durch das Mitnehmen von weggeworfenen Lebensmitteln strafbar macht. „Im Prinzip sind es Waren, die sie nicht mehr haben wollen.“Tut das nicht in der Seele weh?Die nächste Station ist ein herkömmlicher Supermarkt der gehobenen Preisklasse. Hier stehen die Mülltonnen hinter einem drei Meter hohen Zaun. Als Sebastian den Hinterhof erreicht, wirft eine Mitarbeiterin gerade eine Palette voller Obst in die Recycling-Tonne. Sebastian fragt sie durch das Gitter, ob er sich etwas aus der Mülltonne nehmen darf. Die Verkäuferin antwortet, es gäbe Anweisungen, die das verbieten, aber Sebastian bleibt hartnäckig. „Das muss dir doch in der Seele wehtun, so etwas wegzuwerfen“, sagt er der Verkäuferin, die auch mehrere Kohlköpfe und eine knallgelbe Bananenstaude entsorgt. „Mir tut es auch weh. Aber ich kann wirklich nichts tun“, antwortet die. „Das waren die besten Sachen!“, regt sich Sebastian auf, während er sich umdreht und geht. Er glaubt, dass gerade Supermärkte, die hochqualitative Produkte entsorgen, nicht möchten, dass sich das herumspricht.Seine letzte Station ist ein Biomarkt. Auf dem Bürgersteig vor dem Laden stehen vier grüne Tonnen. Sebastian hebt den Deckel der ersten hoch. Darunter verbirgt sich ein Berg von Aufschnittscheiben und halben Käselaiben. Es sieht nicht gerade appetitlich aus. Die drei weiteren Tonnen sind bis zum Rand mit Obst und Gemüse gefüllt. Sebastian legt los und sucht sich die besten Stücke aus: zwei Salatköpfe, zwei Bündel Petersilie, Auberginen, ein Rettich, zwei Granatäpfel, drei kleine Brokkoli und vier große Paprikaschoten, mit je einer winzigen Druckstelle, die anfängt, braun zu werden. Vermutlich ein Transportschaden. Sebastian freut sich über den Fund. Er beugt sich in die nächste Mülltonne und taucht mit zwei Handvoll Haselnüssen wieder auf. „Da kann eigentlich gar nichts dran sein“, wundert er sich. Der Rucksack ist mittlerweile voll und die Tour damit beendet.So lecker!Zu Hause packt Sebastian die Ausbeute aus. Er wäscht sorgsam jedes einzelne Gemüse- und Obststück und begutachtet die Funde durch Riechen und Anfassen. Angesichts der Qualität empfindet er schon lange keinen Ekel mehr, wenn er sich aus „Müll“ ein Essen kocht. Sebastians Mitbewohnerin kommt in die Küche. Ob das alles Bioprodukte seien, fragt sie und fügt hinzu: „Der Salat sieht genauso gut aus, wie der, den ich heute gekauft habe. Und ich habe mir den besten im Sortiment ausgesucht.“Sebastian macht eine der Milchtüten auf und trinkt einen Schluck daraus. „Die ist noch super!“ Auch der Joghurt wird direkt verspeist. Aus Erfahrung weiß Sebastian, dass Joghurt eine Woche nach Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums immer noch genießbar ist. Und oft auch länger. Schlecht ist ihm vom Essen aus der Mülltonne noch nie geworden. Auch Sabotageversuche seien ihm beim Containern nie begegnet. Es seien zwar Gerüchte über Vergiftungen mit Reinigungsmitteln im Umlauf, aber er habe noch niemanden gesprochen, der ihm das aus persönlicher Erfahrung bestätigen konnte. Nur auf dem Wochenmarkt sei es wohl schon vorgekommen, dass Milch oder Joghurt absichtlich auf die restlichen Lebensmittel geschüttet wurden, um ihr Verderben zu beschleunigen.Die heutige Ausbeute ergibt mindestens zwei Mahlzeiten für zwei Personen. Ein durchschnittlicher Tag. Sebastian schätzt den Kaufpreis der gefundenen Lebensmittel auf 10 bis 15 Euro. Es wundert ihn schon lange nicht mehr, was er da alles in den Mülltonnen findet. „Es leuchtet mir irgendwie ein, dass man das nicht mehr verkauft bekommt. Und leider ist mir auch klar, dass in dem kapitalistischen System, in dem wir leben, Lebensmittel produziert werden, um Gewinn zu erzielen und nicht, um Menschen satt zu machen.“ Zwar werden seine Container-Gänge allein das System nicht verändern, doch deshalb darin einfach mitmachen, will er auch nicht: „Ich wünsche mir eine andere Gesellschaft“, sagt er.
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