Vom Störfall zur Zeitenwende: Was bleibt von der Pandemie?
Interview Als sich „die Wissenschaft“ mit Moral und Politik vermählte: Der Literaturwissenschaftler Carsten Gansel erklärt, warum wir besser daran täten, die Corona-Pandemie sorgfältig aufzuarbeiten
Drei Jahre ist es her, dass uns zum ersten Mal die Bezeichnung Covid-19 begegnet ist. Sie schlich sich in die Nachrichten ein unter dem Namen Corona. Eine Infektionskrankheit, hervorgerufen durch das Virus SARS-CoV-2, lernten wir. Zusammen mit dem Symbolbild vom runden Ball mit den nach allen Seiten abgehenden Noppen. Wären’s Nägel, könnte man meinen, es wär’ von Uecker. Am Anfang war alles noch harmlos und weit weg. Aber bald wurde es für mich die größte Störung, die ich in meinem Leben erlebt habe. Spätestens nach den Bildern von Bologna, wo eine Kolonne von Militärlastwagen durch die Nacht fuhr und mir in den Nachrichten erklärt wurde, sie transportierten Särge mit Corona-Toten, bekam ich es mit der Angst zu tun. Gestört war jetzt alles: mein Alltag, meine Arbeit, meine Beziehung.
Störfall Pandemie heißt ein Buch, das der Germanistik-Professor Carsten Gansel zusammen mit José Fernández Pérez herausgibt: Störfall Pandemie und seine grenzüberschreitenden Wirkungen.
der Freitag: Herr Gansel, was ich Störung meines Alltags nenne, hat bei Ihnen seit 2008 in wissenschaftlichen Analysen Aufnahme gefunden. Was genau ist das für Sie – ein Störfall?
Carsten Gansel: Unser Bewusstsein und soziale Kommunikationssysteme wie Politik und Medien werden in Auseinandersetzung mit der Umwelt aufgestört. Solche Störungen verarbeiten unser Bewusstsein oder die sozialen Kommunikationssysteme nach je eigenen Prinzipien als Irritation. Insofern sind Störungen zunächst einmal Momente der Selbstirritation, wie es der Soziologe Niklas Luhmann formuliert. Es wird sodann ein „Informationsverarbeitungsprozess“ in Gang gebracht. Die Wahrnehmung wird auf die Störstelle gelenkt, zum Beispiel eben auf die Pandemie.Sie beziehen sich auch auf das Konzept, Aufstörung als ein wesentliches Moment des gesellschaftlichen Auftrags von Kunst zu sehen. Beispiel ist Ihnen die 1986 erschienene Erzählung „Störfall“ von Christa Wolf. Darin ist die Reaktor-Katastrophe von Tschernobyl das Moment der Aufstörung, die die Autorin aber gegen eine Operation ihres Bruders mit der modernsten Medizintechnik setzt.Genau. Das Reaktor-Unglück führte bei Christa Wolf ganz im Sinne von Niklas Luhmann zu einer „tiefgreifenden Irritation“. Die Folge: Das erzählende Ich wird sich bewusst darüber, dass es nach der Katastrophe Sprache nicht mehr so unvoreingenommen nutzen kann wie bisher. Aber grundsätzlich: Mit Kunst und Literatur schaffen sich moderne Gesellschaftssysteme Formen der Selbstbeobachtung und Problemreflexion. Hier können daher auch Störungen durchgespielt und Grenzen überschritten werden.Was hat Sie denn an Reaktionen in den Teilsystemen Medien und Politik „irritiert“?Wissenschaftlich betrachtet, musste es irritieren, in welcher Weise von der damaligen Bundeskanzlerin, Dr. Angela Merkel, Moral als Kategorie in den wissenschaftlichen Diskurs eingeführt wurde. Freilich nicht nur von ihr. Exemplarisch konnte man dies an ihrem Aufruf zum Kampf gegen sogenannte Verschwörungstheorien sehen. „Das ist ja im Grunde ein Angriff auf unsere ganze Lebensweise“, sagte Dr. Merkel zum Beispiel bei einem Onlinegespräch mit Studierenden in Berlin. Jene, die vermeintlich andere Positionen hatten als die von Dr. Merkel, würden von daher zukünftig eine „Aufgabe für die Psychologen“ werden. Anstelle von Inklusion in die Gesellschaft erfolgte eine Exklusion, ein Ausschluss – mit den bekannten Folgen.Merkwürdig, dass das eine Wissenschaftlerin sagt. Meinem Verständnis nach ist Moral kein Kriterium für Wissenschaft ...Das schreibt auch Niklas Luhmann. Moral ist für ihn kein Kriterium für Wissenschaft, auch nicht für die Wirtschaft, auch nicht für Politik. Bleiben wir bei der Wissenschaft: Die Funktion der Wissenschaft im Sinne von Luhmann besteht darin, neues wahres Wissen zu erzeugen, und nicht darin, den Aussagen moralische Wertungen beizufügen.Zum neuen Wissen gehört zweifellos, dass Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie durch die Politik, zu denen ich auch ein Impfangebot zähle, zu der Wahrnehmung führen, dass sich die Spaltung der Gesellschaft vertieft hat – als unerwünschter Nebeneffekt oder von der Politik bewusst in Kauf genommen? Wissenschaftlich gesehen vertieft natürlich nicht das Virus die Spaltung, sondern die Reaktionen in Teilbereichen der Gesellschaft. Ich teile Ihren Befund. Aber es hätte nicht auf Spaltung zulaufen müssen. Störungen beziehungsweise Störfälle provozieren selbstreflexive Prozesse. Das ist die Chance. Systeme, also Teilbereiche von Gesellschaft wie das politische System, das Mediensystem und in diesem Fall natürlich die Medizin, können durch Irritationen dazu angeregt werden, zu „lernen“ und ihre Strukturen neu zu koppeln. Das jeweilige System kann die Irritation aber auch ignorieren oder ausschalten und gegebenenfalls diejenigen delegitimieren, die Forderungen nach einem analytischen Umgang mit dem Störfall Pandemie erheben.Woran sich ja auch die Leitmedien nach Kräften beteiligt haben. Sie haben sich von der Politik mit der Legitimation, es sei Gefahr im Verzug, instrumentalisieren lassen – wobei mir ein bisschen unwohl ist angesichts meiner Generalisierung von „den“ Medien, in denen ich ja auch und gern tätig bin. Ich klammere diesen Aspekt aber einmal aus. Wie wurden die Medien ein Teil des Störfalls Pandemie?Ich teile Ihre Zurückhaltung in Hinblick auf „die“ Medien. Das wäre in der Tat zu pauschal. Der Politologe Thomas Mayer hat aber in einem Buch, das bereits im Jahr 2015 erschienen ist, davon gesprochen, dass es zu einer „Verschmelzung der beiden gesellschaftlichen Funktionssysteme der Politik und der Medien“ gekommen sei. Und es existiere von daher ein „politisch-mediales Supersystem“. Das ist – ich betone das – keineswegs moralisierend gemeint. Es erklärt dann aber einiges über das Verhältnis zwischen Politik und Medien während der Pandemie und auch danach.Placeholder infobox-1Gibt es eine gegenseitige Abhängigkeit von Medien und Politik, und vor allem: Wie realisiert sich diese „Verschmelzung“?Zur „Metamorphose der Welt“ im Sinne des Soziologen Ulrich Beck gehört offensichtlich der Umstand, dass es zunehmend zu einem Zusammenspiel von Politik und Medien kommt. Die Positionen der Regierung und der maßgeblichen Medien sind kaum unterscheidbar. Ein Grund dafür: Es gibt anscheinend keine Deutungsdifferenzen. Der Umgang mit Aufstörern der sanktionierten „Narrative“ lässt daher umso mehr Rückschlüsse auf den Zustand von Gesellschaft zu. Das politisch-mediale Supersystem reagiert einvernehmlich mit Ausgrenzung.Der Vertrauensverlust gegenüber den Leitmedien setzte ein, weil diese ihre Argumentationen für Impfen, Lockdown und Maske größtenteils auf nicht evaluierbare Studien, Statistiken mit ungesicherten Zahlen und vage Prognosen stellten, die sich sprachlich ausdrückten mit „kann kommen“, „könnte zu erwarten sein“, „Damit ist zu rechnen“ usw. So kam es ja auch aus dem Mund eines habilitierten Gesundheitsministers. Wie sehr verstört Sie das als Wissenschaftler? Herr Prof. Dr. Karl Lauterbach ist seit 2005 Mitglied des Bundestages. Er hat also, so könnte man sagen, einen Wechsel von der Handlungsrolle im System Wissenschaft in das der Politik vollzogen, seit immerhin fast 20 Jahren. Inwieweit man da in den naturwissenschaftlichen Spezialbereichen, die die Pandemie betreffen, noch auf dem Laufenden sein kann, will ich nicht beurteilen. Allerdings ist es irritierend, dass im Kontext der Pandemie verstärkt von „der“ Wissenschaft die Rede war. Es gibt sie in dieser Form allerdings nicht. Wissenschaft bedeutet Diskurs, Kontroverse, Kritik, Selbstkritik, permanentes In-Frage-Stellen. Prof. Dr. Christian Drosten, nehmen wir ihn hinzu, ist daher nur einer unter vielen, er ist allerdings – wie Robert Niemann, ein Kollege von mir, gezeigt hat – zu einem „prognostischen Propheten“ aufgebaut worden, dem eine Art „Alleinstellungsmerkmal“ zukommt. Und genau das stellt wissenschaftlich gesehen, sage ich mal, wohl ein Problem dar.Jürgen Habermas wird am Ende seiner Karriere die Ehre zuteil, immer wieder mit dem Gedanken zitiert zu werden, dass ein halbwegs funktionierender Rechtsstaat und eine halbwegs funktionierende Demokratie nur durch das Engagement der ebenso misstrauischen wie streitbaren Bürgerinnen und Bürger am Leben bleiben. Sie beziehen sich in Ihrem Buch auch auf Habermas. Nun kennen wir Bilder von Wasserwerfern gegen Impfgegner. Die Bilder haben Deutschland als eine gespaltene Gesellschaft vorgeführt. Aber andererseits muss man fragen, ob der Staat nicht reagieren musste, weil da nicht nur friedliche Impfgegner demonstriert haben und nicht nur Eindämmungsmaßnahmen kritisiert wurden. Proteste sind fester Bestandteil moderner und funktional ausdifferenzierter demokratischer Gesellschaften. Gerade für die Geschichte der Bundesrepublik lässt sich eine Protestkultur ausmachen, angefangen in den 1950er Jahren. „Protestbewegungen beobachten die moderne Gesellschaft anhand ihrer Folgen“, notiert Luhmann. Sehr bedenkenswert! Und von daher meine Frage als Antwort auf Ihre: Wer entscheidet denn, ob ein Protest legitim ist oder nicht? Die Regierung, die staatlichen Instanzen, die Medien?Während wir uns infolge der Pandemie in einem anderen Leben wiederfinden – hier hat nämlich zuerst die Zeitenwende stattgefunden –, gibt es auch gesellschaftliche Teilsysteme, die von der Pandemie profitieren. So finde ich es in Ihrem Buch. Welche Teilsysteme sind das, und inwiefern profitieren sie?In Zeiten von Ausnahmezuständen gewinnt das „System Politik“ an Macht. Es werden Begründungen dafür geliefert, warum sonstige Regeln, Normen, Gesetze außer Kraft zu setzen sind. Klar war auch, dass die Maßnahmen gegen die Pandemie von einer explodierenden Kommunikation über den Störfall begleitet sein würden. Die Neuartigkeit des Virus, das dramatische Ausmaß seiner Folgen, die weltweite Betroffenheit mussten die mediale Berichterstattung nach oben treiben. Mit Notwendigkeit profitieren Pharmakonzerne, die marktwirtschaftlich agieren. Von Maskenproduzenten und ihren Verkäufern will ich gar nicht reden. Uwe Johnson, der Autor der großartigen Jahrestage, hat in anderen Kontexten, das war 1961, einmal konstatiert: „Die amerikanische Börse notiert dann die höchsten Punkte, wenn die Berlinkrise auf dem Höhepunkt ist.“Ich lese in Ihrem Buch, dass Sie an einer Rückkehr zum Status des „Davor“ zweifeln. Aus welchen Gründen?Zweifeln? Nein, das ist nicht mein Ansatz. Wir haben Fragen aufgeworfen. Etwa diejenige, welche sozialen und psychischen Schäden die nachwachsende Generation zu tragen hat. Wie sieht es mit den Aussagen von Herrn Lauterbach aus, der immer wieder auf allen Kanälen von der „nebenwirkungsfreien Impfung“ gesprochen hat? War es eine angemessene Entstörungsmaßnahme, die Impfung als Game Changer zu deklarieren und ganzen Berufsgruppen eine Verpflichtung zur Impfung zu geben? Was ist das eigentlich, wenn infolge des Störfalls Pandemie ein neuer Straftatbestand eingeführt wird, etwa die „verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“? Man wird gerade nicht die abschließenden Worte von Marcel Reich-Ranicki beim Literarischen Quartett bemühen können: „Den Vorhang zu und alle Fragen offen.“ Der Vorhang muss dringend geöffnet werden, und er muss auch offen bleiben. Und die Wissenschaften haben ihren Job zu machen!Placeholder authorbio-1
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.