Der Düsseldorfer Architekt Christoph Ingenhoven hat unlängst Bewegung in die Debatte um das künftige Erscheinungsbild des Schlossplatzes in Berlins historischer Mitte gebracht. Zwischen Palast, Parkplatz oder Schloss entscheidet er sich für einen Park. Eine virtuelle Präsentation dieses Vorschlags zeigt derzeit die Charlottenburger Galerie "Aedes". "Gibt es einen schöneren Ort als hier, um über Europa nachzudenken?" Christoph Ingenhoven wirft der Politik des Berliner Senats heute vor, den stadtplanerischen Leitgedanken einer "kritischen Rekonstruktion" historischer Strukturen zu einer rigiden Stilvorlage gemacht zu haben. Experimentellere Entwürfe seien damit systematisch ausgegrenzt worden, mit der Folge, dass eine beträchtliche Zahl junger deutscher Architekten bei der Gestaltung des "Neuen Berlin" nicht zum Zuge gekommen sei. Die Galerie "Aedes" hat sich der Idee "Central Park Berlin" mit dem Aufruf zu einem Moratorium in der Schlossplatz-Debatte angeschlossen. Noch gehört der Vorschlag nicht zu den Entwürfen, die von der vom Bund eingesetzten Expertenkommission begutachtet werden. Das Architektenbüro "Ingenhoven Overdiek und Partner" bemüht sich jedoch derzeit um die offizielle Aufnahme in den Wettbewerb.
FREITAG: Otto Grotewohl soll 1950 vor dem Abriss des Berliner Stadtschlosses gesagt haben: "Jetzt schreien alle, und wenn das Schloss weg ist, kräht kein Hahn mehr danach."
PAUL INGENHOVEN: Aber der damalige Abriss war kein Teil einer revolutionären Erstürmung des Schlosses mit einem darin noch befindlichen Kaiser, sondern ein kaltes Abservieren, schlicht eine Barbarei. Man hat sich damit eine Art von Bilderstürmerei angemaßt, für die es aber keine gesellschaftliche Dynamik gab.
Apropos Barbarei: Die "Arbeitsgemeinschaft Berliner Stadtschloss" wirbt derzeit am Schlossplatz, für dessen Wiederaufbau. Mit der Nachkriegsmoderne sei gewissermaßen die architektonische und stadtplanerische Barbarei ausgebrochen, die erst mit dem Wiederaufbau des Schlosses wirklich überwunden wäre.
Darin liegt sehr viel Falsches. Es gibt wunderschöne moderne Architektur, die genauso bezaubernd ist, wie es historische Architektur sein kann. Außerdem sind die Probleme von Metropolen heute durch Dinge, wie sie in Berlin passieren, nämlich Baulücken-Schließungsprogramme, um das mal deutlich zu sagen, überhaupt nicht bewältigbar. Wir haben die Probleme von Überbevölkerung, von zuviel oder zuwenig Dichte, wir haben riesige Verkehrsprobleme, wir haben eine Menge wirtschaftlicher Probleme, Arbeitslosigkeit, Gewalt in unseren Städten, Ausländerfeindlichkeit, Intoleranz. Das Problem, den Schlusspunkt unter eine vermeintliche architektonische Barbarei setzen zu müssen, indem man das Schloss wieder aufbaut, das Problem sehe ich nicht.
In Berlin kommt vielleicht dazu, und das sieht man ja auch an der recht polemischen Debatte darüber, dass jede Baulücke gleich eine Identitätslücke ist, weil sie oft auch als eine politische Lücke gesehen wird.
Aber jede Baulücke, die man als solche empfindet, wird ja unter einer Vorgabe geschlossen. Und man tut heute so, als ob man etwa die fehlenden jüdischen Adressen auf der Friedrichstraße nachträglich rekonstruieren könnte. Das kann man aber nicht. Und diese Lücken zu heilen ist mir völlig fremd. Sie aber zu lindern, oder durch etwas Neues, Optimistisches zu ersetzen, das finde ich legitim.
Die Befürworter des Wiederaufbaus meinen: "Alle großen Städte Europas sind ohne ihr Schloss denkbar." Für Berlin jedoch gelte: "Das Schloss lag nicht in Berlin, Berlin war das Schloss."
Der Charme oder das Herz Berlins ist für mich etwas völlig anderes, als das Schloss. Dann hätte Berlin über die letzten 50 Jahre kein Herz gehabt, und das stimmt ja einfach nicht. Die Zeit, in der Berlin nach dem Krieg einmal den Anschein machte, dass es vielleicht eine internationale Metropole sein könnte, das war Ende der siebziger Jahre, als sich hier ein gewisser Teil der internationalen Musikszene traf. Das war ein kurzer Moment des Avantgardedaseins, den es ja in den zwanziger Jahren im Übermaß gegeben hatte. Ende der Siebziger gab es einen Berlin-Schick, als relativ junge Leute das Gefühl einer Art von Freiheit hatten, weil man nicht so unter Beobachtung stand. Wenn man mal überlegt, worauf sich das bezogen hat, und worauf sich Berlin in Zukunft beziehen könnte, dann ist es die Polizentralität. Der Westen, der Osten, die historische Innenstadt, der Alexanderplatz, der Tiergarten, von mir aus auch der Kiez, Prenzlauer Berg oder Kreuzberg - das ist das, was Berlin ausmacht, dieses Provisorium, dieses Nicht-Festgelegte, dieses Nicht-Zuendegebaute, dieses etwas Gefährliche.
Wenn man versucht, in einer Vergangenheit, die unabgeschlossen blieb oder abgebrochen wurde, einen Ansatz zu finden für eine mögliche Identität...
...dann genau in diesem Bruch, in der Vielfalt, im Experimentellen, in dem rein für den Augenblick und für die Zukunft leben, und die Vergangenheit nicht wieder erfinden wollen. Berlin wird eine große Rolle spielen, wenn es darum geht, die ehemaligen Ostblockstaaten in die Europäische Union zu integrieren. Die Aufgaben, vor denen man da steht, haben viel zu tun mit Denken, mit Reden, mit Diskutieren, mit Experimentieren. Die haben nichts damit zu tun, in der Mitte Berlins das 19. Jahrhundert durchzuexerzieren.
Das "Planwerk Innenstadt" sieht ja durchaus "Experimente mit dem Vokabular der Architektur" auf der Grundlage der "behutsamen Rekonstruktion des Stadtgrundrisses" vor.
Wenn man jetzt behauptet, dass man Experimente auf der Basis dieses städtebaulichen Leitgedankens erlaubt, dann ist das eine fromme Lüge. Was nennen die denn Experiment? Es gibt doch eine erstaunliche Reihe von Architekten, die in dieser Stadt nichts oder nur wenig gebaut haben. Wo sind denn die Bauten von Behnisch und Thomas Herzog, von Frei Otto? Selbst von Gottfried Böhm gibt es nichts. Alle diejenigen Architekten, die sich steinern und extrem konservativ bis restaurativ gegeben haben, durften viel bauen. Es gibt natürlich auch eine Reihe von experimentelleren ausländischen Architekten, die gebaut haben, zum Beispiel Piano, Rogers oder Foster. Wenn man aber genau hinguckt, wird man feststellen, dass die Bundesbaukommission und DaimlerChrysler hier die Aufträge erteilt haben, meistenteils gegen die Voten des Senats.
In der Argumentation der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung heißt es: "Trotz der dramatischen Transformation und Modernisierung der Gesellschaft benötigt das Neue Berlin grundsätzlich kein neues städtebauliches Leitbild."
Die "dramatische Transformation und Modernisierung der Gesellschaft" erzwingt geradezu neue städtbauliche und architektonische Strategien. Ich halte es für völlig falsch, zu glauben, wir müssten bloß die Strukturen wieder heilen, denn in diesen Strukturen sei alles möglich. Als Stimmann kurz nach der Wende Senatsbaudirektor wurde, kam er aus Lübeck. Wenn Sie in Lübeck ein Haus bauen sollen in einer Baulücke, die 10 Meter breit ist, dann ist es völlig normal, dass Sie links und rechts gucken, was die anderen gebaut haben, und dann bauen Sie ein schönes Haus in diese Lücke. Man kann eine Baulücke auch mal über zwei, drei Häuser definieren oder einen halben Block. Was ich nicht verstehe, sind Baulücken von der Größe des Potsdamer Platzes oder des Alexanderplatzes oder der gesamten Berliner Innenstadt, oder eben solche Baulücken wie der Schlossplatz. Das sind keine Baulücken, das sind riesige Brachflächen. Die Selbstverständlichkeit, mit der man das Programm der sogenannten "kritischen Rekonstruktion" abstrahierend von bestimmten Einzelthemen in der Innenstadt ausgedehnt hat auf die gesamten Innenstädte Berlins, finde ich aberwitzig. Da hat jemand das nötige Abstraktionsvermögen nicht gehabt. Stimmann hat die kritische Rekonstruktion ja nicht nur als abstraktes Prinzip deklariert, sondern durchdekliniert bis zur Türklinke.
Wenn man nun aber, wie das "Planwerk Innenstadt", davon ausgeht, dass der Grundriss einer Stadt gewissermaßen ihr Gedächtnis ist, könnte man doch verlangen, dass diese Linien sichtbar bleiben. Dann müssen bestimmte Fassaden und Mauern auch sichtbar sein, an denen sich das Denken buchstäblich Beulen holen kann.
In unserem Falle würde das aber bedeuten, dass das Schloss immer die einzig denkbare Lösung für das Problem war. Dann frage ich mich aber: Wo sind die Menschenmassen, die für den Wiederaufbau des Schlosses demonstrieren? Wenn es denn so notwendig wäre, gäbe es dafür mehr Indizien, als dass sich einige Leute über dieses Thema einigermaßen eloquent artikulieren können.
Ihrem Vorschlag wurde wiederholt vorgeworfen, er sei eine Kapitulation vor der architektonischen Aufgabe. Stichwort "Experimente mit dem Vokabular der Architektur": Wäre die Realisierung Ihrer Idee das Eingeständnis, dass die Architektur mit ihrem Latein erst einmal am Ende ist?
Im Gegenteil, eher eine Erweiterung des Wortschatzes. Es kann ja auch eine städtebauliche Tugend sein, es zu lassen. Architektur kann auch im freien Raum bestehen, in öffentlichem Raum, im Park, ein Verschwinden der Architektur oder ein zunehmendes Verschwindenwollen an bestimmten Stellen. In Stuttgart am Hauptbahnhof haben wir das ja getan - das ist ein sich tarnendes Bauwerk. Dass sich Bauwerke zurückziehen, kann eine extrem wichtige Qualität von Architektur sein.
Die Verschnaufpause wäre also weniger das Eingeständnis einer Resignation, als sozusagen eine Kreativpause.
Die Zeit ist eine sehr wichtige Dimension im Städtebau. Da haben wir uns in Berlin alle übernommen. Man muss doch auch mal die Zeit finden, ein bisschen Abstand zum eigenen Werk zu nehmen. Beim Gärtnern spricht man von "Unkrautblindheit". Das geht so: Sie fangen an, Unkraut zu zupfen und wenn Sie es ein paar Stunden gemacht haben, sind Sie blind und Sie übersehen vor sich Unkraut im Beet. Und dann kommt Ihre Frau um die Ecke und sagt, hör mal, da ist aber noch etwas, da, da und da. Und dann erst sehen Sie: Stimmt ja! Mit einer gewissen Distanz und Lockerheit und Ausgeruhtheit sieht man andere Dinge. Und ich empfehle deshalb der Republik, Pause zu machen und mal Abstand zu nehmen. Der Park stünde auch als Symbol für das nicht besinnungslose Weiterbauen.
Sie rechnen also damit, Lust zu wecken, ein Bedürfnis, was ja jetzt in der Ausstellung schon passiert, wenn man sich die Reaktionen im Gästebuch der Galerie "Aedes" ansieht.
Ja klar. Wir haben mit der Idee des Parks ja etwas aufgegriffen, was hier und da schon mal angedacht war von Einzelnen. Ich habe gesagt: Der Park wird nichts, wenn man ihn nicht illustriert. Die Begehrlichkeit danach muss geweckt werden.
Im Gästebuch fragt auch jemand: "Aus welcher würdelosen, geschichtslosen Ecke kommen Sie nur, Herr Ingenhoven?"
Da muss er ja nur noch "vaterlandsloser Geselle" sagen, dann weiß ich auch, wo der herkommt. Aber ich will gar nicht sagen, die Schlossbefürworter seien alle kleine Faschisten, das ist offensichtlich Unsinn. Das sind nette, liberale, aufgeklärte Menschen. Es wundert mich nur, wie nette, liberale, aufgeklärte Menschen für das Schloss sein können. Was mir als geschichtslos ausgelegt wird, nenne ich geschichtsbewusst. Kann jemand, der die Geschichte kennt, dafür sein, das Schloss wieder aufzubauen? Das ist die Frage, die ich stelle. Ich habe das Gefühl, dass die Bundesrepublik nach 16 Jahren Kohlschem Stillstand oder Hinführung zum Stillstand eine andere Art von Beweglichkeit verdient hätte, als das zur Zeit zumindest in den städtebaulichen und architektonischen Signalen aus dem Zentrum der Republik ablesbar ist. Mein Gefühl sagt mir - ich dreh den Satz von Otto Grotewohl mal um -, wenn das Schloss wieder aufgebaut wird, werden wir noch während des Wiederaufbaus den großen Katzenjammer darüber erleben, es überhaupt begonnen zu haben.
Das Gespräch führte Tobias Hering
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