Vom Winde verweht

Kino Schaut man "Das Turiner Pferd" von Béla Tarr, empfindet man eine paradoxe Ungeduld: beim Genuss eines Momentes schon darauf zu brennen, den nächsten zu erleben!

Das Richtmaß für eine gut erzählte Geschichte ist die Menge weiterer Geschichten, die hinter ihr noch sichtbar werden. Das Kino und die Literatur kennen indes wenige Werke, die derart als Ableger konzipiert sind und Nebenfiguren zu Protagonisten befördern. Im Zentrum von Jean Rhys‘ Roman Saragassomeer steht die erste Ehefrau von Rochester aus Jane Eyre; Billy Wilder kam die Idee zu Das Apartment, nachdem er gründlich über David Leans Melo Begegnung nachgedacht hatte: Wie sähe das Ganze aus der Sicht des Mannes aus, der den anderweitig verheirateten Liebenden seine Wohnung überlässt?
Béla Tarrs jüngster und hoffentlich doch nicht letzter Film greift eine der berühmtesten Anekdoten der Literaturgeschichte auf: jenen Augenblick, als Friedrich Nietzsche sich im Jahre 1889 in Turin beherzt zwischen ein Pferd und den es peitschenden Kutscher warf; ehe er für den Rest seiner Tage dem Wahn verfiel.

„Über das Pferd wissen wir nichts“, heißt es auf einer Schrifttafel zu Beginn des Films. Zwar dementiert er diese Abkunft scheinbar nachdrücklich: Er trägt sich in der ungarischen Tiefebene zu, auch zeitlich ist er der Begebenheit entrückt; sein Pferd hat ein anderes Schicksal, sein männlicher Protagonist ist nicht jener Peiniger, den Nietzsche einst in die Schranken wies. Dennoch führt der Verweis nicht in die Irre. Ein Nachwirken ist in Tarrs Film zu erahnen, das atmosphärisch greifbar ist, sich in einer kreatürlichen Verbundenheit offenbart. Als hätte es seine eigenen Schlüsse gezogen, weigert sich Tarrs Pferd alsbald, seine tägliche Last zu tragen.

Vorspiel einer Apokalypse

Das Alsbald ist freilich eine relative Kategorie bei Tarr, dessen Filme landläufige Sehgewohnheiten sprengen, indem sie der Dauer im Kino ihren verlorengegangenen Rang zurückerstatten. Den Bewegungen von Mensch und Tier verleiht die grandiose Entschleunigung von Das Turiner Pferd – der Film vermag ansonsten wenig an Handlung aufzubieten – eine eigentümliche, bestürzende Würde.
Über zweieinhalb Stunden hinweg und in gerade einmal 30 schwarz-weißen Einstellungen betrachtet Fred Kelemens Kamera (was soll nur aus dem einstigen Regisseur werden, wenn Tarr seine Ankündigung wahr macht, sich vom Kino zurückzuziehen?) den Tagesablauf des Kutschers, seiner Tochter und ihres Pferdes, der sich in der erzählten Zeit von knapp einer Woche kaum verändert; nur unter dem Vorzeichen der Erschöpfung, des Versiegens der Ressourcen. Die Situation bleibt unerklärt, sie könnte das Vorspiel einer Apokalypse sein.

Und doch ist der Bann, in den der Film schlägt, unermesslich. Zerfallsprozesse werden bei Tarr zu einer existenziellen Erfahrung des Zuschauers, das Schauen zu einer beglückenden Strapaze. Man empfindet eine paradoxe Ungeduld: beim Genuss eines Momentes schon darauf zu brennen, den nächsten zu erleben! Von Anfang an, der bereits eine ungeheure Wucht besitzt, von der der Film sodann nie mehr abweicht, fällt es leicht, sich einzuschwingen in den Wechselrhythmus von Wiederholung und Variation; voller Erwartung, ob die nächste Plansequenz ebenso lang und getragen sein wird.

Eine frohe Langmut stellt sich ein. Der eigene Blick wird ausdauernder. Beharrlich, ohne schützenden Vorbehalt setzt ihn Tarr den Elementen aus. Ein tosender Wind tritt an die Stelle des Dialogs. Mit dem Geheimnis, dem Raunenden richtet man sich wacker ein; bald schon aus Gewohnheit. Verstehen und Begreifen müssen nicht identisch sein.

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