Vom Zonenrand lernen ...

DEUTSCHE EINHEIT Claus Noé, ehemaliger Staatssekretär unter Oskar Lafontaine, über die innere Balance der Thierse-Thesen und Fehlgewichte in der ostdeutschen Wirtschaftspolitik

Freitag: Wolfgang Thierse sagt, der Osten steht auf der Kippe. Kippt er nicht bereits? Claus Noé: Aus ökonomischer Sicht ist das der sanfteste Ausdruck, den Thierse finden konnte. Seit 1996 wächst die Wirtschaft in den neuen Ländern langsamer als in den alten. Und das bedeutet, dass die Differenz in der Wertschöpfung wächst anstatt sich zu vermindern.

Eine Entwicklung, für die Sie den Vergleich mit dem Mezzogiorno benutzen. Warum?

Weil Mezzogiorno heute bedeutet, dass in Italien der Staat und die EU ununterbrochen für den südlichen Landesteil bezahlen, weil man nicht rechtzeitig entgegengesteuert hat.

Mezzogiorno steht für Abwanderung. Auch hier ist die Parallelität zu Ostdeutschland nicht übersehbar.

Ja, seit 1991 hat die ehemalige DDR 649.000 Einwohner verloren, die westdeutsche Bevölkerung nahm im gleichen Zeitraum um 2,8 Millionen zu. Wanderung gibt es immer, schlimmer aber ist, dass sich die Zahl der Netto-Abwanderung innerhalb von zwei Jahren vervierfacht hat. Wenn sich so ein Prozess weiter beschleunigt, dann wird daraus eine Welle, die 20- bis 40-Jährigen gehen und die Alten bleiben.

Wie könnte man dem entgegensteuern?

Die Wachstumspole in den neuen Ländern sind automatisch Plätze der Zuwanderung aus dem eigenen Umland, etwa der Speckgürtel um Berlin, Leipzig, Chemnitz. Das hat etwas mit Fühlungsvorteilen der Wirtschaft, mit Kommunikationsmöglichkeiten, Vernetzungsmöglichkeiten - insgesamt mit kurzen Wegen zu tun. Und wenn man von modernen Dienstleistungen spricht, dann sind diese Fühlungsvorteile der Ballungszentren eine conditio sine qua non. Diese Wachstumspole müssen weiter entwickelt werden, denn wenn die Leute, zum Beispiel die aus den Grenzgebieten zu Polen - keine Arbeitsplätze und Einkommenschancen in ostdeutschen Wachstumszentren finden, dann hauen die gleich nach Westdeutschland ab. Das heißt, diese Wachstumspole wirken wie Reusen gegen die weiträumige Abwanderung.

Aber gerade diese Wachstumspole will mancher Politiker jetzt bei der Förderung ausklammern. Stichwort: Regionalförderung.

Und das ist falsch. Dann haben Sie zwar hohe Förderanreize zur Beruhigung der Bürgermeister auf dem flachen Land in den Büchern stehen, aber niemand geht hin. Sie können kein modernes Dienstleistungsunternehmen in einem Dorf aufbauen. Manche Politiker versuchen, das weiter bestehende Transformationsproblem zu einem Regionalproblem herunterzudefinieren. Von einem Regionalproblem könnte man dann sprechen, wenn die neuen Länder sich wenigstens annähernd selbst ernähren könnten und wenn die Löhne nicht auf breiter Front der Produktivität davongelaufen wären. Das ist aber nicht der Fall: Jede dritte Mark, die in Ostdeutschland ausgegeben wird, kommt aus Westdeutschland. Es ist, als ob ein Arzt seine Diagnose von seiner bevorzugten, möglichst preiswerten Therapie abhängig macht. Die entstandene Transferwirtschaft ist mit regionalpolitischen Instrumenten nicht zur Marktwirtschaft zu transformieren. Wäre das anders, dann würde kein Mensch von der Notwendigkeit eines weiteren Solidarpaktes ab 2005 reden müssen.

Zurück zum Thierse-Papier. Dort wird die Lage in Ostdeutschland ohne Ausnahme als Binnenproblem beschrieben, die Veränderungen durch die EU-Osterweiterung bleiben ausgeklammert.

Das ist ein verschwiegenes Thema - auch, weil relativ schwer abzuschätzen ist, wie so etwas auf Wirtschaftsräume wirkt. Deswegen ist aber die Aussage von Hans-Werner Sinn, dem Präsidenten des Ifo-Institutes, sehr ernst zu nehmen. Er sagt, die fünf neuen Länder sind zur Zeit die am wenigsten wettbewerbsfähige Region in der EU. Die Ost-Erweiterung ist genau einer der Gründe, warum ich sage, macht jetzt noch einmal drei Jahre Schub. Denn dann können Produktionsverhältnisse in Ostdeutschland entstehen, die jedenfalls wettbewerbsfähiger sind als heute.

Müsste es dann nicht sofort einen neuen Solidarpakt geben?

Das schafft man ja nicht. Deswegen habe ich eine Zwischenstrategie vorgeschlagen und an die Zonenrandförderung erinnert, die viel länger und intensiver lief - die Fördersätze waren deutlich höher, obwohl der Abstand deutlich geringer war als heute zwischen alten und neuen Ländern. Diese Förderung hätte die Form einer Investitionszulage für Unternehmen mit überregional handelbaren Gütern, also Dienstleistungen bis Autozubehör, und nicht das Warenhaus, den Metzger oder den Kiosk an der Straße. Denn Ostdeutschland muss Marktanteile gewinnen, wenn es den Abstand zum Westen verringern will. Das aber kann man nur mit überregionalen Gütern. Investitionen solcher Unternehmen müssen deutlich höher gefördert werden als bisher, und zwar unbedingt befristet auf drei Jahre, bis zum Beitritt neuer Staaten zur EU und bis zum neuen Solidarpakt 2005. Nur so kann man eine Investitionswelle erzeugen. Komplementär dazu muss die für eine wirtschaftliche Expansion notwendige Infrastruktur ausgebaut werden. Da haben die großen Wirtschaftsinstitute einen Bedarf von mindestens 300 Milliarden Mark ausgerechnet. Mehr als zusätzlich 100 Milliarden insgesamt in drei Jahren wird man aber schwerlich realisieren können, ohne an Kapazitätsgrenzen zu stoßen und Preiserhöhungen statt reale Expansion zu produzieren.

Klingt toll. Wo ist der Pferdefuß?

Kein Pferdefuß, sondern eine zwingende Bedingung ökonomischer Disziplin muss eingehalten werden: Diejenigen, die für Tarifabschlüsse verantwortlich sind, müssen zusagen, dass sie solange keine reale Erhöhung der Tariflöhne vereinbaren, solange die gesamtwirtschaftliche Produktivität in den neuen Ländern hinter den Lohnkosten zurückhängt. Es darf keine kollektive Tarifpolitik geben, die den Aufholprozess der Produktivität gegenüber der Lohnhöhe verhindert. In Unternehmen, deren Produktivität hoch ist, mögen freiwillig höhere Löhne gezahlt werden. Der Tariflohn muss Mindestlohn sein, und das kann er nur, wenn er produktivitätsorientiert ist.

Ist das eine Absage an den Flächentarifvertrag?

Nein. Dazu ist der Flächentarifvertrag unabdingbar, er wird aber zur ökonomischen Perversion, wenn er versucht, Löhne als Vorschuss auf künftige Produktivitätssteigerungen festzulegen. Dann treten die Unternehmen aus den Arbeitgeberverbänden aus, um einer Tarifbindung zu entgehen, die ihre Arbeitskosten so hoch treibt, dass sie keine Finanzmittel mehr haben, mit denen sie Investitionen bezahlen könnten, die zur Produktivitätssteigerung unverzichtbar sind. Wenn eine solche tarifpolitische Disziplin nicht möglich wird, dann sind zusätzliche Investitionsanreize nicht zu rechtfertigen. Denn sie kommen dann nicht den Investoren zugute, sondern es werden überhöhte Löhne subventioniert.

Weder Thierse noch Sie stoßen mit der Forderung nach einer Kehrtwende in der ostdeutschen Wirtschaftspolitik zur Zeit auf Zustimmung. Egal, ob Schwanitz, Biedenkopf oder Stolpe - alle klagen, hier werde die Situation schlechter geredet als sie sei. Und das habe psychologisch verheerende Auswirkung auf die ostdeutsche Bevölkerung.

Wenn ich es recht verstanden habe, hat sich unter anderem der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt dieser Linie nicht angeschlossen. Es gibt einen erprobten politischen Lehrsatz, der erheblich mehr Chancen eröffnet für Politik als das Verschweigen von Fehlentwicklungen: Ein Problem, beantwortet mit einem Programm, das dessen seriöse Beseitigung oder Verminderung erwarten lässt, ist psychologisch und politisch viel eher zu meistern als ein zunächst verschwiegenes Problem ohne Programm. Und wenn die gutgemeinte Psychologie des Verschweigens oder Bagatellisierens für die Bürger erkennbar wird, weil sie konkrete Erfahrungen machen, dann kommt es häufig zu wilden politischen Wettläufen um programmatische Schnellschüsse, die meist vor Wahlen einsetzen, mit der heißen Nadel genäht werden und extrem teuer sind, weil zu spät und zu populistisch. Es wäre besser, wenn die Betroffenen sich der Linie Reinhard Höppners anschlössen, eine gemeinsame Position suchten und zugleich deutlich machten, dass die Wiederbelebung des Aufholprozesses im Osten gerade auch im ökonomischen und politischen Interesse der Westdeutschen liegt.

Dazu fehlt aber auch die Einigkeit, wie sie beispielsweise zu Zeiten der Zonenrandförderung in der alten Bundesrepublik einmal bestand. Warum?

Ich habe den Eindruck, dass viele ostdeutsche Mandatsträger noch nicht bereit sind, ihr gemeinsames Interesse als Ostdeutsche gemeinsam in verschiedenen Parteien zu verfolgen. Stattdessen herrscht noch so eine Art antagonistisches Freund-Feind-Denken vor. Die Zonenrandlobby kannte fast keine Parteien mehr, sie kannte fast nur noch Zonenrand - von Schleswig-Holstein bis Bayern, egal wer gerade regierte oder Opposition war. Genauso wichtig aber ist: Wenn die ostdeutsche Politik jetzt mit dem Hammer vorgeht, wird sie sich im Westen nicht unbedingt beliebter machen. Deshalb verspricht eine Linie Erfolg, die solide Problemlösungen für Ostdeutschland politisch organisiert und zugleich im Westen mit den auf der Hand liegenden Argumenten deutlich macht, dass die Westdeutschen mit einer Fülle politischer, gesellschaftlicher und ökonomischer Probleme beladen werden, wenn der Osten "kippt", um Wolfgang Thierses politische Mehrzweck-Vokabel im Umlauf zu halten.

Das Gespräch führte Jörn Kabisch

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