Von außen

Im Kino »Gefühle, die man sieht ...« von Rodrigo García

Episodenfilme sind so eine Sache. Es kann faszinierend sein, statt der einen großen Geschichte mit klar abgegrenzten Haupt- und Nebenfiguren mehrere kleine Fragmente zu sehen, die sich dafür gegenseitig erhellen, zu einem Gesellschaftspanorama oder doch wenigstens einer vielschichtigen Momentaufnahme ergänzen. Oft genug steckt in der Entscheidung fürs vielteilige Kleine anstelle des dramatischen Großen jedoch auch schlicht mangelndes Zutrauen zum Stoff. Der Plural der Geschichten soll dann ausgleichen, was den einzelnen Figuren an Tiefe fehlt. Meist erscheinen Episodenfilme daher wie Verlegenheitslösungen, denen nur noch der hochtrabende Anspruch anzumerken ist, die Komplexität der modernen Welt bebildern zu wollen. Das kann sehr langweilig sein - und verdächtig nah an die mechanischen Erzählweisen der »Daily-Soaps« geraten.

Gefühle die man sieht ... ist alles andere als langweilig. Und das, obwohl sich Rodrigo García, Sohn des Schriftstellers Gabriel García Marquez, in seinem Regiedebüt auf weit mehr Einschränkungen einlässt, als es das Genre sonst erfordert. In jeder der fünf Geschichten, die in Gefühle, die man sieht nacheinander erzählt werden, stehen Frauen im Mittelpunkt. Die Häufung der großen Namen, die hier vergleichsweise kleine Rollen übernommen haben - Glenn Close, Holly Hunter, Calista Flockhart, Cameron Diaz, um nur einige zu nennen -, ist darüberhinaus eher als Ausdruck einer großen Armut zu deuten: der Armut an guten Drehbüchern und Rollen für Schauspielerinnen, die nicht mehr als Teenager zu besetzen sind.

Rodrigo García macht zunächst alles ganz so, wie man es aus vielen anderen Episodenfilmen kennt. Die Geschichten spielen an einem gemeinsamen Ort, dem San Fernando Valley in Los Angeles, und sind untereinander auf eine Weise verknüpft, die den aufmerksamen Zuschauer fordert: Zu Anfang wird Kommissarin Kathy Faber zu einem Selbstmordfall gerufen; sie erfährt, dass es sich um eine ehemalige Mitschülerin von ihr handelte. Einem wandelnden Wasserzeichen gleich streift diese Carmen als noch lebende Passantin durch die einzelnen Episoden, bis ihr Tod in der letzten, die von Kathy und ihrer blinden Schwester Carol handelt, wieder zum Thema wird.

Carmen ist jedoch nicht die einzige Person, über die García die einzelnen Erzählungen miteinander korrespondieren lässt: Christine, die beherzte Kartenleserin aus Episode 1, erweist sich in Episode 4 als von Verlassensängsten geplagte Freundin einer Todkranken. Walter, der in Episode 2 eine Nacht mit seiner Chefin verbringt, die ihn aber sofort wieder fallen lässt, kehrt in Episode 5 wieder, als Verehrer der blinden Carol, die er, wie der aufmerksame Zuschauer alleine weiß, wegen der Affäre mit der Chefin schließlich versetzt.

Womit bereits ein wesentlicher Effekt von Garcías Film beschrieben wäre: Mit jeder Episode dringt man ein wenig tiefer in die Welt der Figuren ein, wird der Perspektivwechsel, den die einzelnen Frauen oft mehr erleiden als erleben, radikaler, weil wir als Zuschauer schließlich mehr wissen als die Figuren. Wir können uns nichts mehr vormachen.

Wo wir in Episode 1 zuerst noch ganz auf die selbstsichere Art von Dr. Keener vertrauen, die sich mit fast kühler Sachlichkeit eines Tages eingestehen muss, wie leer ihr Leben ist, erscheinen die Selbstaussagen der ungewollt schwangeren Rebecca in Episode 2 schon weit weniger zuverlässig. Folgt sie wirklich dem eigenen Willen, als sie sich zur Abtreibung entschließt oder doch mehr den vermeintlichen äußeren Zwängen? Wie getrieben von ihr selbst ganz unbekannten Wünschen stellt Rose in Episode 3 ihrem neuen - zwergwüchsigen - Nachbar nach. Gefühle, die man sieht ... handelt in immer weiter gehenden Varianten genau davon: Von dem, was von außen zu erkennen ist (Things you can tell just by looking at her heißt der Film im Original), für die Beteiligten selbst aber unsichtbar bleibt. Weil sein Blick auf die Frauen zwar überraschend klar, aber doch nie verurteilend ist, stimmt der Film melancholisch und versöhnlich zugleich.

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Geschrieben von

Barbara Schweizerhof

Redakteurin „Kultur“, Schwerpunkt „Film“ (Freie Mitarbeiterin)

Barbara Schweizerhof studierte Slawistik, osteuropäische Geschichte und Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin und arbeite nach dem Studium als freie Autorin zum Thema Film und Osteuropa. Von 2000-2007 war sie Kulturredakteurin des Freitag, wechselte im Anschluss zur Monatszeitschrift epd Film und verantwortet seit 2018 erneut die Film- und Streamingseiten im Freitag.

Avatar

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden