Von der Allmacht der Zunge

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Gibt es ein poetischeres Organ als die Zunge? Nicht zufällig setzt schon das lateinische "lingua" die Sprache und die Zunge synonym. Das biologische Faktum, dass 26 Muskelgruppen der Zunge nötig sind, damit wir essen, schmecken und sprechen können, wird in zentralen Werken der literarischen Moderne zum Anlass fantastischer Mythenbildung. Man trägt eben nicht nur das Herz auf der Zunge, sondern auch die Poesie. Eine berühmte literarische Urszene erzählt von der furchtbaren Angst des Helden, Sprache und Zunge zu verlieren. So wird am Anfang des legendären Erinnerungsbuchs von Elias Canetti dem zweijährigen Protagonisten die Amputation der Zunge vorausgesagt. Auch in ironischen Kontexten, etwa in Günter Grass´ Gedicht Adornos Zunge, kehrt diese Amputationsdrohung wieder. Bei Grass wird diese Drohung allerdings zum plakativen politischen Sinnbild verflacht, bei Canetti zum existenziellen Symbol aufgeladen. So verkörpert "die gerettete Zunge" den Aufbruch in ein anderes Leben - in die Welt der Literatur. Bei Thomas Kling wird die Zunge als "textus" apostrophiert, in den meisten Gedichten seiner Zeitgenossen fungiert sie - ein traditioneller Topos - als erotisches Zentralorgan.

All diese poetischen Konnotationen werden auch im vorliegenden Gedicht Henning Ziebritzkis aufgerufen - aber die Zunge in diesem Text verharrt nicht in ihrer ursprünglichen Erscheinungsform, sondern durchläuft zahlreiche Metamorphosen, verändert ihre Gestalt so sehr ins Unheimliche, dass sie zum eigentlichen Subjekt des Gedichtes wird, dem sich das "benommene" Ich unterwerfen muss. In der ersten Strophe erscheint die Zunge noch als möglicher Bestandteil eines Standard-Menüs für Autoreisende (möglicherweise eine "Rinderzunge") - bei näherem Hinsehen hat sie sich bereits hier als fremdes, sperriges, von jeglichem Körper abgetrenntes Objekt verselbständigt, das vom Ich in seiner ebenso strahlenden wie bedrohlichen Konkretheit halluziniert wird. Konstitutiv für Ziebritzkis lyrisches Verfahren ist die Entscheidung, die Grenze zwischen dem Realen und dem Imaginär-Phantastischen offen zu halten. Die Zunge als Partialobjekt ist hier Material für eine Ästhetik des Ekels. So registriert das lyrische Ich in der zweiten Strophe die Frau in Grün zunächst als erotische Verlockung, eine Verheißung, die fast im gleichen Augenblick in eine Schreckensszene umkippt. In einer Art Vexierbild mutiert die Schönheit (der Zähne) zur universellen Hässlichkeit, denn die Zunge schiebt sich "aus dem Geschwür in einer Wange".

Am Ende werden die Momente des Bedrohlichen und des Verlockenden in der Schwebe gehalten. Die Zunge ist hier situiert in einem Raum des Sakralen, als stimulierendes Moment beziehungsweise Auslöser geheimnisvoller Töne, sie produziert geradezu die Erfahrung einer Aura: "An ihren Rändern fing sich etwas/ wie Licht, das langsam angehalten wird." In einer letzten Wendung folgt noch einmal eine Zungen-Bewegung von animalischer Direktheit: das leckende Tier als erotisches Surrogat. Henning Ziebritzki, dessen frühe Gedichte eine stark intertextuelle Tendenz aufwiesen und sich an Zitaten und Theoremen poetischer Vorbilder inspirierten, hat in Die Zunge zu einer dezidiert gegenständlichen, dem sinnlichen Detail verpflichteten Dichtung zurückgefunden. Das genaue, fast überscharfe Hinsehen auf eine konkrete Einzelheit gebiert hier ein Ungeheuer: die allmächtige Zunge.


Henning Ziebritzki

Die Zunge

Ich kann die Zunge nicht vergessen,
die ich am Rasthof am Kirchheimer Dreieck sah.
Ich war benommen von Fahrt, vom Nebel.
Sie ragte aus meinem chaotischen Tablett, glänzend
und wirklicher als jede Installation.

Am Nebentisch die Frau in Grün, die telephonierte.
Die Zunge schob sich durch ihre schönen Zähne,
aus dem Geschwür in einer Wange - Bewegungen,
mit denen sie Bilder produzierte
wie ein Alarmsignal, bevor das System versagt.

Wir saßen in einer Orgel, im Brausen der Töne.
Die Zunge vibrierte. An ihren Rändern fing sich etwas
wie Licht, das langsam angehalten wird.
Ich war so dankbar, als der Hund sich streckte,
um mir tief ins Ohr zu lecken.

Henning Ziebritzki, geboren 1961 in Wunstorf, lebt in Tübingen. 1998 veröffentlichte er den Gedichtband Randerscheinungen im S. Fischer Verlag. Das vorliegende Gedicht ist dem Heft 156 (2002) der Literaturzeitschrift manuskripte entnommen.



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