Dieser schmale Roman liest sich am besten in einem Zug, möglichst an einem entrückten Ort, so dass man von der hundertelften und letzten Seite aufblickt und sich wundert, dass inzwischen die Sonne untergeht.
Zeina Ghandours Erzählung Der Honig beginnt wie ein Märchen aus dem Morgenland und handelt doch auch von Selbstmordattentaten, von den erotischen Abenteuern einer Journalistin im heilig-unheiligen Jerusalem und vom Pragmatismus und der Heuchelei derer, die im Nahen Osten Friedensabkommen aushandeln und auf ihre Weise umsetzen. Es ist eine fließende Erzählung, eigentlich eher ein Gedicht, in dem sich in jeder "Strophe", jedem Kapitel eine andere Stimme erhebt. Die Stimmen, Bewusstseinsströme verschiedener Figuren ergeben zusammen ein subjektives, ein po
bjektives, ein poetisches und dabei erstaunlich realitätsnahes und aktuelles Bild des Lebens in Palästina. Diese doppelte Qualität mag darin begründet liegen, dass die 1966 in Beirut geborene Autorin vor ihrem ersten literarischen Werk sich im Studium mit so nüchternen Gegenständen wie Recht, Volkswirtschaft und Politik beschäftigt hat und als Wahlbeobachterin und -organisatorin in Asien, Afrika und im Nahen Osten tätig war.Die Zusammenhänge und das Geschehen erschließen sich nach und nach, wenn man lesend den Stimmen lauscht, sich ihrem Fluss anvertraut: Ruhiya ("die Spirituelle", "die Seelenvolle"), Tochter eines Dorf-Muezzins - tatsächlich die Tochter eines anderen, des "Honigmannes" - ruft eines Morgens an Stelle des kranken Muezzin zum Gebet. Dass eine junge Frau sich zu dieser Rolle aufschwingt, bedeutet einen ungeheuerlichen Tabubruch. Am selben Morgen hat sich ein anderer Dorfbewohner, Yehya ("der Lebenswille"(!)) auf den Weg nach Jerusalem gemacht, um "mit aller Leidenschaft" zu sterben. Er ist der Halbbruder von Ruhiya; ihrer beider Mutter ist die verstorbene Frau des Muezzin, Hurrah ("die Freie").Jeder der erwähnten Namen ist bedeutungsvoll und die Beziehungen zwischen den Figuren sind voller dunkler Geheimnisse und Skandale. Der Honig ist von ambivalenter Bedeutung, süßes, allzu süßes Lebenselixier, das auch zum Gift werden kann. Eine Journalistin, nüchtern, "westlich", begibt sich auf die Jagd nach einer Story in das Westbankdorf, aus dem der Täter stammt und der unbotmäßige Ruf einer Frau vom Minarett erklang. Im Fall des Kamikaze geht es für die Journalistin wieder einmal nur darum, Namen und Zahlen zu ändern und sie in die immer gleiche Story einzupassen: "Der Inhalt des ungeschriebenen Artikels jedenfalls steht schon fest, von vornherein abgesegnet dank Geberländern und Friedensunterhändlern." Doch beim Versuch im Fall des weiblichen Muezzin zu recherchieren, stößt sie im Dorf auf Schweigen, anspielungsreiches Ausweichen und milden Spott, und sie gesteht: "Ich war voller Neugierde gekommen, jetzt empfand ich Scham."In den Passagen, die aus dem Blickwinkel der Journalistin geschrieben sind, gelingt es Zeina Ghandour ausgezeichnet, mit wenigen Bemerkungen den Zynismus und die Absurdität der Politik - aller Beteiligten - auf den Punkt zu bringen, ohne sich jemals belehrend darüber auszulassen. Auch wenn es um die dörfliche Gesellschaft in der Westbank geht, schreibt sie nicht aus einer unliterarischen, analytischen Distanz. So würde man diese Verhältnisse als "rückständig" darstellen oder als "exotisch" im Sinne Edward Saids, doch der orientalistische Blick ist nicht der von Zeina Ghandour. Mit keinem Wort beschreibt sie oder nähert sich ihren Figuren von außen und mit Kategorien, die ihnen fremd wären. Das macht die Qualität von Der Honig aus.So meistert sie auch die heikle Aufgabe, ihre Leser in die Lage und die Stimmung eines jungen Mannes zu versetzen, der im Begriff ist, sich und möglichst viele andere in den Tod zu reißen. Bei der Passage des Kamikaze handelt es sich um eine gelungene Darstellung, jenseits der Ebene von politischen, psychologischen oder moralischen Einschätzungen oder Wertungen. Diese Passage ist sicher eine der schönsten und gelungensten des ganzen Buches, reine Literatur, die gerade deshalb keine Aussage über die geplante furchtbare Tat des Yehya ist, eine Tat, von der er schließlich Abstand nimmt. Auch das wird keineswegs als "Umkehr" oder Läuterung inszeniert.Sabine Hübner ist der literarischen Qualität in der deutschen Ausgabe vollkommen gerecht geworden. Nur selten unterbrechen Missgriffe den Fluss der Sprache, der hier so wichtig ist und von dem man sich gerne davontragen lässt. Problematischer ist es schon, wenn sich die Autorin selbst gelegentlich von ihrer Faszination durch die Magie davon tragen lässt. Dem Mystischen und Vormodernen, das in der palästinensischen dörflichen Gesellschaft noch eine zentrale Rolle zu spielen scheint, erliegt sie manchmal mit fragwürdigen Bildern und Vergleichen und hohlen Aussagen wie: "Ich war durchtränkt von Magie". Aber das tut dem positiven Gesamtcharakter dieses Debüts keinen entscheidenden Abbruch.Zeina B. Ghandour: Der Honig. Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Sabine Hübner. dtv, München 2004, 120 S., 12 EUR