Ein Mädchen geht auf dem Wasser. Was zu Beginn des ersten Romans der britischen Dichterin Lavinia Greenlaw wie der Aufbruch einer Expedition ins Übersinnliche anmutet und zugleich den ersten Pfosten eines Spannungsbogens ins Uferland des Stausees nahe der Provinzgemeinde Allnorthover rammt, versetzt den Leser in eine aufs Angenehmste aufgeheizte Nervosität, die zugleich so gemütlich anmutet wie ein rätselhaftes englisches Landhaus vor dem Eintreffen Miss Marples. Denn die 17-jährige Mary George über dem Wasser wird beobachtet - von Tom Hepple, einem nicht mehr ganz jungen Mann, der genau an diesem Tag, man schreibt irgend eines der im Rückblick einander wohl sehr ähnelnden siebziger Jahre, nach langjähriger Abwesenheit in der Hölle der
der Psychiatrie heimkehrt nach Allnorthover.Tom Hepple, ein gutmütiger Irrer, wie man im Dorf meint, von Greenlaw gezeichnet mit den Zügen des zahlenbesessenen, durch kleinste Abweichungen von der Regel störbaren Autisten, weiß, dass die Landschaft seiner Kindheit während seiner Abwesenheit im Stausee versunken ist. An dessen Entstehen hatten einst auch sein Bruder Christie und dessen Freund Matthew, Marys Vater, ihre planerische Aktie. Dennoch ist er vom Anblick des Wassers überwältigt und offenbar auf der Suche nach einem Haus, als er Mary George dort wandeln sieht. Sie balanciert hingegen, was er nicht weiß, auf einem tief gelegenen Ast, wie sie es oft getan hat seit ihrer Kindheit. Fortan verfolgt dieser Tom Hepple das Mädchen in einer ebenso harmlos wie unheimlich anmutenden Art und Weise, sucht ihre Nähe, den Kontakt zu ihr, ohne dass dem Leser, und hier ergeht es ihm wie Mary George selbst, zunächst klar wird, warum. Natürlich entrollt sich im Fortgang der Lektüre, dass Marys Vater, ein inzwischen von der Mutter geschiedener und an der Küste lebender Architekt, der Hepple-Familie nicht nur durch berufliche Partnerschaft mit Christie Hepple eng verbunden war. Marys Mutter vermutet sogar ein Liebesverhältnis zwischen ihrem Ex-Mann und der vor vielen Jahren an Krebs verstorbenen Mutter Toms und Christies, Iris Hepple, die Marys Vater offenbar näher stand als den eigenen Söhnen ...Lavinia Greenlaw setzt ein klassisches und sehr englisch anmutendes Rätsel ein, um hingegen eine ganz andere Geschichte zu erzählen, sie faltet die Innenansicht einer Initiation in der scheinbaren Schäbigkeit und Behäbigkeit (west)europäischer Provinz mit großer schriftstellerischer Geläufigkeit und geradezu detailversessenem Erinnerungsvermögen auf. Das Mädchen Mary George, klug, sensibel, angemessen linkisch und ums Erwachsenwerden bemüht, schaufelt sich tapfer durch die Niederungen der Pubertät hindurch, die zuweilen wahrlich wie eine Hölle anmuten kann, nur dass diese Hölle niemals als etwas wirklich Besonderes erscheint, sondern als individuelle Variante des archaischen Modells. Das nimmt alles Hehre aus Greenlaws Bemühen um Authentizität. Das macht es möglich, die Mittel des "sozialdemokratischen" englischen Kriminalromans wie der Unterhaltungsliteratur zu nutzen, selbst dialogintensive Screwball-Elemente schmiegen sich stilistisch stimmig dem Erzählten an. Es gibt die sentimentanfällige "erste Liebe" zu dem Kunststudenten Daniel, schlaksige Mädchenfreundschaft und das Erleben von Verrat und Vertrauensmissbrauch, das noch ungelenke Orientieren an unterschiedlichen "erwachsenen" Lebensmustern. Man sieht Mary George in der Zerreißprobe zwischen dumpfer Provinzialität und dem, was noch im letzten Kaff dieser Welt an vermeintlich "großen Dingen" spürbar ist, wenn der Blick den Körper im letzten Moment des Kindseins verlässt, so dass die eingefangenen Bilder gewissermaßen in den erwachsenen Leib zurückkehren müssen. Die ausgreifenden Schatten der 68er-Revolten schleichen noch um die Ritualstätten der Jugendkultur, es wird mit zarter Anmut gekifft und gesoffen, nichts scheint wirklich aus dem Rahmen zu brechen, und auch dem Tod wird die nötige Selbstverständlichkeit zugestanden, selbst wenn er nach eingeübtem Ermessen sinnlos genannt werden muss, nämlich durch leichtsinnige Mutproben unter Heranwachsenden evoziert.Lavinia Greenlaws Erzählen bewegt sich wie unterhalb der Flimmerfrequenz des menschlichen Auges, die Momentaufnahmen bleiben im Ablauf der Sequenzen deutlich sichtbar, sie entschleunigen den Text nicht nur, sie nehmen ihm alles Spektakuläre. Und das ist nun wirklich spektakulär. Die Autorin scheint sich der Risiken solcher Erzählweise sehr gewiss zu sein und geht sie immer bis zu jenem Moment ein, in dem der Leser den Absturz aus großer Höhe zu fürchten beginnt. Aber Greenlaw erreicht das rettende Ufer ohne ernstzunehmende Gefahr. Als sich der zweite Pfosten des eingangs gesetzten Spannungsbogens wiederum ins Uferland des Stausees bohrt, hat es das Unerhörte, den Mord und die Leichenfledderei, zwar tatsächlich gegeben, scheint also das klassische Rätsel gelöst, aber nichts hat sich erledigt. Schuld und Unschuld tragen so ähnliche Masken, dass sie einander nicht denunzieren und im moralischen Kontinuum nur miteinander existieren können. Die Spannung besteht fort ... Es gibt Bücher, die Ruinen ähneln, nachdem ihr Geheimnis vom Leser geknackt und fortgeschleppt wurde wie eine Beute. Das muss ein Buch nicht unglücklich machen. Von einem Glücksfall hingegen ist zu sprechen, wenn nach der vermeintlichen Entzifferung die Spannung der Ungewissheit fortbesteht, das Buch unbeschädigt bleibt.Um die außerordentliche poetische Valenz einer umgekehrten Proportionalität von Aufklärung und Sicherheit, von Wissensschärfe und Gefühlsdiffusion, bewegt sich Lavinia Greenlaw auch in ihren Gedichten. Im Text Aufhängung (Suspension) aus dem zweisprachigen, 1998 erschienenen Band Nachtaufnahmen, versucht das lyrische Ich, eine Brückenkonstruktion zu entschlüsseln. In das allmähliche Verstehen der Gleichung des Architekten mischt sich zunehmend ein Gefühl der Bestürzung: mein Gleichgewichtsgefühl ist plötzlich weg,/ebenso meine Unkenntnis, dieses Grundgerüst jener/Kräfte, die verhindern, daß wir stürzen.Die Dichterin scheint jähen Orientierungsverlust innerhalb eines eben noch für sicher befundenen historischen, wissenschaftlichen, künstlerischen Koordinatensystems geradezu zu evozieren und sich in immer wieder überraschenden Variationen dieses Modells ihrer Poetik vergewissern zu wollen. Nicht die Sprache mit ihren Brüchen, Läsionen, Sprüngen und Unregelmäßigkeiten ruft auf den dichterischen Plan, sondern vom sehr genau wahrgenommenen visuellen Motiv wandert das Wort in den Text, der nicht zwischen den Buchstaben und Lauten, den Muskelbewegungen beim Sprechen zum lyrischen Text wird, sondern seine erstaunliche Kraft aus solch unpoetisch anmutenden Prozeduren des Abwägens, Aufwiegens, Berechnens, des Perspektivwechsels, des Sezierens und der Rekombination seiner Elemente zieht. Der Vorzug der auf strikte Originaltreue bedachten Übertragung durch Nora Matocza und Gerhard Falkner mag darin liegen, diese Methodik der Lavinia Greenlaw (allzu?) transparent zu machen. Die Rezensentin hingegen, jenem anderen Übertragungsmodell anhängend, das die wörtliche Strahlung des Textes in eine Nachdichtung zu transportieren versucht, zieht den eigentlichen Genuss eher aus den englischsprachigen Originalen. Hier scheint sich das Chaos der Existenz noch zwingender in konzentrischen Kreisen auf die Dichterin zu zu bewegen - in berechtigter Erwartung des poetischen Urknalls.Lavinia Greenlaw: Nachtaufnahmen. Gedichte in zwei Sprachen. Englisch-Deutsch. DuMont-Verlag, Köln 1998, 151 S., 38.- DMDie Vision der Mary George. Roman. Aus dem Englischen von Sabine Hedinger. DuMont-Verlag, Köln 2001, 350 S., 44,- DM
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