A
Anwalt Ach, diese Teilhaber, mit Eckbüro und Penthouse, die sich in den Eames Lounge Chair fallen lassen und auf den Main starren, äußerlich angekommen, innerlich leer, ohne Anker, und sich mit Senior Consultants auf eine Trüffelpasta im Fratellis treffen „Sie durchliefen ihre Karriere wie einen choreografierten Hürdenlauf.“ Und irgendjemand stürzt, immer. So wie hier Anwalt Reitmayr, der im Grunde natürlich was anderes sucht. Jan C. Behmann, Notfallmediziner und sonst Schreiber (➝ Schreibende) von Glossen und Miniaturen, hat nun seinen ersten Roman veröffentlicht. Reitmayr machte immer alles mit links, edition behmann, seziert das Milieu normierter Menschen, die in Kanzleien gebraucht werden und deren Ehen vor allen Dingen Geschäftsmodelle sind. Es wäre leicht, sie und ihren Habitus abzukanzeln, Behmann ergründet lieber die Seele der Leute, hat Empathie für diese Markenfetischisten mit John-Lobb-Schuhen und Burgol-Schuhcreme. Kennen Sie nicht? Maxi Leinkauf
B
Bremerhaven Zwei Jahre lang hat die Fotografin und freie Bildredakteurin Miriam Klingl immer wieder mit ihrer Mittelformatkamera den Bremerhavener Stadtteil Lehe besucht. 300 Filme hat sie mit Porträts der BewohnerInnen und Stadtansichten gefüllt, um den gängigen Klischees von Kriminalität, Verfall und Trostlosigkeit, die es über Lehe gibt, etwas entgegenzusetzen. Sowohl die eindrücklichen Bilder als auch die Stimmen der Porträtierten, die im daraus entstandenen Buch ausführlich zu Wort kommen, ermöglichen einen differenzierteren Blick auf einen liebenswerten Ort, ohne dessen Probleme zu verschweigen. Schlägt man das Buch zu, beschleicht einen das Gefühl, selbst schon durch Lehe gewandelt zu sein. Zu sehen ist die Arbeit Lehe im Wandel noch bis zum 7. Juli dieses Jahres in einer Ausstellung der Bremer Landesvertretung in Berlin. Niklas Rock
F
Freibad Einmal steht Isobel, die das Schwimmen vor über 80 Jahren mit einem Kälberstrick um den Bauch im Fluss gelernt hat, mit dem Kiontke, der, höflich formuliert, auch nicht erst seit gestern Bademeister ist, in den Umkleidekabinen des Ottersweiler Freibads, und sie rätseln, warum jemand eingedenk der Möglichkeiten, die das Internet so bietet, heutzutage noch ein Spannerloch in eine Freibadkabinenwand bohrt. Es gehe dem Spannerlochbohrer halt „um einen echten Menschen mit seinen Gerüchen und Geräuschen“, mutmaßt Isobel. Seemann vom Siebener (Tropen) ist Arno Franks erster Roman (➝ Anwalt), der nicht auf einer wahren Begebenheit beruht. Aber er kann Gerüche, Geräusche und das ganze Drumherum so echt aufschreiben, dass man beim Lesen hineinplumpst in dieses Bad, das es so nur in Deutschland und nur auf dem Land gibt. Bei Arno Frank riecht Freibad nach mehr als Chlor und Pommes, und was man so ländlicher Raum nennt, schildert er auf eine Art, wie ihn sich Menschen, die nie dort gelebt haben, kaum vorstellen. Schlecht geliebt und gestorben wird aber auch in diesem Buch. Christine Käppeler
G
Gastarbeiter:innen Dinçer Güçyeter ist Verleger (➝ Märchen), Gabelstaplerfahrer, preisgekrönter Autor. Sein erster Roman verknüpft die Kapitel mit den Ich-Erzählungen der Urgroßmutter, Großmutter, Mutter und dem Sohn mit Wiegenliedern, Gedichten und Fotos der Familie. Ein stiller, manchmal schmerzender Roman über Deutschland und eine Gastarbeiterfamilie ist Unser Deutschlandmärchen (Mikrotext). Er geht mit dem Männerbild der Familie (und so mit vielen Familien) hart ins Gericht: „Je stärker du einen selbstsicheren Mann in mir sehen wolltest, desto mehr habe ich alles Maskuline abgelegt.“ Wow. Zu Recht nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse 2023.Ebru Taşdemir
H
Hochstaplerin Skeptisch war ich, als Marlen Hobrack nach ihrem Sachbuch Klassenbeste (Hanser) wenig später ein Romandebüt vorlegte. Hoffentlich nicht noch ein Klassenroman. Das Genre wurde für meinen Geschmack etwas überstrapaziert. Aber welch ein köstlicher Roman einer Hochstaplerin ist jetzt Schrödingers Grrl (Verbrecher Verlag)! Mara soll für das jüngste Werk eines Herrn mittleren Alters die Autorin spielen, weil sich Bücher junger Frauen besser verkaufen. Von Literatur hat Mara keine Ahnung. Aber dumm ist sie nicht. Wie Hobrack liebevoll alle Figuren ernst nimmt, die Gesetze des Betriebs aufs Korn nimmt, das ist rundum gelungen. Katharina Schmitz
K
Künstlerfamilie Kennen Sie die Familie Braunfels-Hildebrand? Nein? Dann lernen Sie sie kennen! Sie gehört in eine Reihe mit den Brentanos, Mendelssohns und Weizsäckers! Meint zumindest unser Autor Wolfgang Herles. Sie kennen ihn dank der sehr kenntnisreich und plastisch geschriebenen Opernkritiken im Kulturteil. Kunstaffin und gebildet ist er, und das merkt man auch seinem Buch an, dem man allerdings den kalauernden Titel Felsen in der Brandung (Benevento) nachsehen muss. Als solche gelten ihm die Sprösslinge dieser Familie, die Bildhauer, Komponisten, Architekten und Philosophen wurden und im Laufe der deutschen und europäischen Geschichte immer wieder mit den Autoritäten aneinandergerieten. Wie Adolf von Hildebrand, der so deutsche Werke wie das Bismarck-Denkmal in Bremen schuf und mit dem Geiste meist in der Toskana war – weshalb er manchem Zeitgenossen als ungehörig undeutsch galt. Leander F. Badura
L
Lukács Der marxistische Philosoph Georg Lukács hat viel geschrieben, doch sein bedeutendstes Buch ist die 1923 erschienene Aufsatzsammlung Geschichte und Klassenbewusstsein. Studien über marxistische Dialektik geblieben; zum Beispiel der Begriff der „Verdinglichung“, dem im sogenannten westlichen Marxismus, für den etwa Adorno steht, eine große Zukunft beschieden war, wird hier eingeführt. Weil das vor genau hundert Jahren geschah, hat der Aisthesis Verlag das Buch neu aufgelegt als Faksimile mit handschriftlichen Notizen seines Autors aus späterer Zeit, als dieser Probleme damit hatte, denn er stand inzwischen für die marxistisch-leninistische Orthodoxie (und warf Adorno vor, dessen Texte wohnten „im Grand Hotel Abgrund“). Im Anhang werden Lukács’ Marginalien von Rüdiger Dannemann ausführlich analysiert, wie er auch den „schwierigen Weg zur Neuausgabe 1968“ nachzeichnet. Das war die Zeit, als ihn Rudi Dutschke in Budapest besuchte. Michael Jäger
M
Märchen Die deutsche Lyrikszene ist fein und klein, ohne Beate Tröger wäre sie winzig. Sehr viel weniger vital wäre auch die hessische Literaturszene. Ach was, die deutsche! Beate Tröger schreibt für den Freitag, Zeit Online, diverse Magazine, zu hören ist sie im DLF, SWR, WDR. Sie ist Lehrbeauftragte für Literaturkritik, Jurorin – und Herausgeberin ist sie auch. Während der Corona-Pandemie entstand die Anthologie Fee Nummer 13, die sich mit der Figur der ungebetenen Fee aus Dornröschen auseinandersetzt und zu der 30 Autor:innen, z. B. Nora Gomringer, Daniela Danz und Slata Roschal, beigetragen haben. Welcher Verlag ist offen für ein so mutiges Projekt? Natürlich der kleine, feine Elif-Verlag von Verleger und Dichter Dinçer Güçyeter (➝ Gastarbeiter). Katharina Schmitz
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Piraten Der Leviathan steckt ziemlich hartnäckig in unseren Köpfen. Oft wird deshalb die Menschheitsgeschichte als eine vom vorstaatlichen Chaos hin zur staatlichen Ordnung erzählt, weil ja angeblich nur in einem hierarchisch organisierten Staatswesen der Mensch seine Freiheit verwirklichen könne. Thomas Wagner erzählt in Fahnenflucht in die Freiheit (Matthes & Seitz) die Historie all jener, die sich dem Staat und seiner Herrschaft entzogen haben. „Barbaren“ und Piraten, Banditen und Vagabunden, revolutionäre Sklaven und Zapatisten, sie alle suchten ihre Freiheit jenseits staatlicher Ordnung. Wagners Buch ist eine höchst lesenswerte Suche an allen Ecken und Enden des Globus: eine Reise zu den anderen, noch unentdeckten Quellen der Demokratie. Pepe Egger
R
Raubkatze Bernhard Malkmus ist ein moderner Nature Writer. Auf freitag.de finden Leser:innen einen lesenswerten Essay über den Bayerischen Wald. Für die wunderbare Reihe Naturkunden (Matthes & Seitz) porträtierte Malkmus wunderbar die Luchse. Der Luchs, nie „ganz im Bild“, hat uns Menschen immer begleitet. Luchsaugen scheinen zu sprechen, zum Beispiel von den Widersprüchen der Moderne. Der Luchs (lat. Lynx) war dem Menschen lange unheimlich. Sein Blick schien unangenehme Fragen an den Menschen zu haben. In vielen Wäldern wurde der Luchs nach seiner fast vollständigen Ausrottung wieder „ausgewildert“. Er sollte uns nicht nur als Maskottchen dienen, schreibt Malkmus. Katharina Schmitz
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Schreibende Frau kann nur staunen, was sie nicht weiß, selbst wenn sie so lange journalistisches Handwerk in studentisches Werk zu bringen versucht hat. Über New Journalism wusste ich einiges, aber nicht so minutiös, wie es in Erika Thomallas Sammelband Literarischer Journalismus aus der Edition Text+Kritik nachzulesen ist. Dass wir Schreibende tagtäglich zwischen Nähe und Distanz schwanken, uns fragen, ob wir „ich“ sagen dürfen oder wie flockig der Stil sein darf, kennen wir. Und natürlich Namen wie Tom Wolfe, Hunter S. Thompson, den unvergleichlichen Jörg Fauser oder Tom Kummer mit seinen Fake-Interviews. Erinnert wird auch an Kultzeitschriften wie Sounds oder Tempo. Es ist viel von Popkultur die Rede in den klug-informierten, manchmal etwas erratischen Beiträgen, von den Brücken zwischen altem und neuem Journalismus, erstaunlich wenig aber über die Traditionslinien in die Weimarer Republik. Von Diedrich Diederichsen erfahren wir, dass er sich das „ich“ abgewöhnt habe. Ulrike Baureithel
Z
Zuversicht Der Stil von Jörg Phil Friedrich zeichnet sich durch das Fehlen von Verstimmungen aus. Wenn er im Freitag über den Klimawandel schreibt, dann fehlt es zwar nicht an drastischen Szenarien. Aber selbst wenn uns der Stromausfall droht, fügt er an: „Die gute Nachricht: Wir haben noch ein bisschen Zeit.“ Zuversicht nennt man das, sie ist der Schlüsselbegriff in seinem Buch Die postoptimistische Gesellschaft. Zwar hat die Corona-Krise gezeigt, wie ungewiss der Fortschritt der Wissenschaft ist, aber es bleibt die Hoffnung, dass eine fehlbare Wissenschaft nicht per se Fehler machen muss. Wo andere von einem tiefen Vertrauensverlust sprechen, plädiert Friedrich lieber für einen Vertrauensvorschuss. Fundiert ist seine Gesellschaft in einer Ethik, die sich diese Frage stellt: Wie ist das gute Leben auch in einer unsicheren Welt noch möglich? Michael Angele
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