Von Gewalt, Talenten und Burschen

Sport Die Natur hat in der Welt des Fußballs ihren festen Platz. Ausgerechnet da, wo fünf Millimeter zu hoher Rasen zum Problem werden können
Ausgabe 52/2020
Wenn alle hochwissenschaftlichen Trainingsmethoden ausgeschöpft und wirkungslos geblieben sind, konfrontiert der Trainer seine Mannschaft mit der Natur. Die Fußballer müssen dann auf einen hohen Berg stapfen und ein Iglu bauen
Wenn alle hochwissenschaftlichen Trainingsmethoden ausgeschöpft und wirkungslos geblieben sind, konfrontiert der Trainer seine Mannschaft mit der Natur. Die Fußballer müssen dann auf einen hohen Berg stapfen und ein Iglu bauen

Foto: Ardea/Imago Images

Vor elf Monaten bekamen Stadionzuschauer – sie gehörten damals noch zum Fußball – in Deutschland zum ersten Mal Erling Haaland zu sehen. Trainer Lucien Favre – er gehörte damals noch zu Borussia Dortmund – wechselte den norwegischen Stürmer, den sein Verein kurz davor aus Salzburg verpflichtet hatte, in Augsburg beim Stand von 1:3 gegen sein Team ein. Haaland schoss drei Tore, Dortmund gewann 5:3. Weil man sich das nicht erklären konnte, wie es sein kann, dass ein 20-Jähriger mit einem Kindergesicht und rosigen Wangen all die Erwachsenen überlief und das Tornetz fast kaputt schoss, schrieb man: Haaland ist eine Naturgewalt. Genauso wenig aufzuhalten wie ein Gewitter oder Erdbeben.

Natürlich könnte man auch mutmaßen, er sei ein Naturtalent. Dieser Begriff ist für Typen reserviert, die, ohne sich mit einem Kurs und speziellem Training darum bemüht zu haben, etwas sehr viel besser können als viele Streber. Erling Haaland ist sicher zu einem guten Teil ein solches Naturtalent. In den sozialen Medien zeigt er allerdings, dass er durchaus sehr hart arbeitet, um sein offensichtlich naturgegebenes Talent verstärkt zur Geltung zu bringen. Haaland zeigt sich gerne zum Beispiel beim Holzhacken, einer Tätigkeit, die man mit der Umgebung der Natur verbindet.

Manche Sportarten bringen auch sogenannte Naturburschen hervor. Als alpiner Abfahrtsläufer wird man schnell als solcher bezeichnet – vor allem, wenn man den Dialekt einer Alpenregion spricht. Noch ist der Begriff eher männlich besetzt, eine weibliche oder diverse Bezeichnung nicht bekannt. Doch auch Frauen können naturburschig sein. Bernd Heller, in den 1980er und 1990er Jahren Sportstudio-Moderator, war ganz fasziniert, dass es eine Rennläuferin gab, die den nach Naturlandschaft klingenden Namen Regina Häusl trug und aus Schneizlreuth kam, das er sich als eine Siedlung aus von den Bewohnern selbst gebauten Holzhäusern vorstellte.

Überhaupt wird Wintersport im Fernsehen am Samstag und Sonntag unablässig angeschaut, weil es – abgesehen von Bobkunsteisbahnen und Eisschnelllaufhallen – in die Natur entführt, gar noch mehr als sommers die Fahrradlandschaftsrundfahrt Tour de France. Die Athletinnen und Athleten antworten auf Reporterfragen nicht so abgebrüht und gelangweilt wie Fußballer, weswegen man ihnen attestiert, dass sie besonders natürlich seien.

Die Natur ist auch so etwas wie das geheime Wundermittel des Sports, wo er sich in einer besonders künstlichen Welt bewegt: im hoch bezahlten Profifußball, in dem Systeme schon versagen, wenn der Hybridrasen im Stadion fünf Millimeter zu hoch ist. Wenn alle hochwissenschaftlichen Trainingsmethoden ausgeschöpft und wirkungslos geblieben sind, konfrontiert der Trainer seine Mannschaft mit der Natur. Die Fußballer müssen dann – das ist das Winterprogramm – in Schneeschuhen auf einen hohen Berg stapfen und ein Iglu bauen, um darin übernachten zu können. Im Sommer geht man zum Rafting oder Canyoning. Oder der Trainer tut so, als setze er sein Team grüppchenweise in der Wildnis aus. Die beauftragte Event-Agentur passt schon auf, dass den Spielern nichts passiert, doch die sollen ruhig erst mal denken, dass sie in freier Natur (Steigerung von Natur) sind und um ihr Überleben kämpfen müssen. Teambuilding funktioniert draußen am besten – vom Hochseilgarten aufwärts. Wer in Baumwipfeln die Zuversicht nicht verliert, schlägt später die riskanten Pässe.

Durch die Begegnung mit der Natur soll die Leistung besser werden. Am besten übernatürlich.

Günter Klein ist Chefreporter Sport beim Münchner Merkur

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