Der Germanist Dieter Schlenstedt, kritischer Denker und engagierter Freund in den Angelegenheiten der Literatur; Wissenschaftler von Rang in seinen theoretischen Maßstäben, in seinen emotionalen Möglichkeiten für alle die, die ihn kennen, einer der liebenswürdigsten Menschen, wird am 30. August 70 Jahre alt. Die von ihm selbst als hervorhebenswert notierten äußeren Daten seiner Biographie sind im 1995 herausgegebenen Autorenlexikon des Deutschen P.E.N.- Zentrums (Ost) nachzulesen: geboren in Blankenburg im Harz 1932, Studium der Germanistik von 1951 bis 1955, anschließend Dozent an der Arbeiter- und Bauernfakultät, Berlin, von 1963 bis 1966 Redakteur der Weimarer Beiträge, seit 1966 (bis zur "Abwicklung" der Akademie im Jahre 1991) wissensc
1991) wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentralinstitut für Literaturgeschichte in der Akademie der Wissenschaften der DDR, Promotion 1967, Professur 1976. Von 1992 bis 1995 "Förderungsgesellschaft wissenschaftliche Neuvorhaben". Drei Gastprofessuren: Siegen 1988, Amherst/USA 1989, Madison/USA 1993. 1991 Wahl in das P.E.N. - Zentrum (Ost), im gleichen Jahr Wahl zu seinem (letzten) Präsidenten. Danach folgt die Aufzählung einer Reihe von Publikationen, unter anderem 1973 Gesellschaft - Literatur - Lesen (Mitherausgeber und Autor), Wirkungsästhetische Analysen (1979), 1981 Literarische Widerspiegelung (Herausgeber und Autor). Das war eine schon damals mehr als unvollständige Liste angesichts des tatsächlichen Umfangs vorliegender wissenschaftlicher Arbeiten. Angemerkt werden könnte noch: 1995 bis zur Emeritierung im Jahre 1997 Mitarbeit an einem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekt am Institut für deutsche Literatur der Berliner Humboldt-Universität. "Lebt in Berlin", lautet endlich - und zum Glück noch immer - der zitierte letzte Satz dieser Aufzählung. Hinter deren vermeintlicher Folgerichtigkeit institutioneller Abläufe vom ersten, vehement vollzogenen Schritt des Neubeginns bis zur Erfahrung des Scheiterns 40 Jahre danach in der DDR könnte das Gesicht eines intellektuellen Menschen in seiner Zeit verloren gehen. Oder im Definitionsgerangel um die verschiedenen Generationsfolgen des "literarischen Intellektuellen" als "repräsentative Gestalt" und seiner historischen Mitverantwortung für die Deformationen des Sozialismus nach 1945 im Osten Deutschlands verschwinden: "In Erwartung des Feinds ein vorläufiges Beispiel/Reinlicher Scheidung, nicht verbergend den Rest/Der nicht aufging im unaufhaltbaren Wandel..." (Heiner Müller, Der Horatier). Sein Beispiel kann verlängert und wieder aufgerufen werden. Etwa im Hinweis auf den Erfahrungsdruck einer Generation, zu der auch Dieter Schlenstedt gehört, und ihrem widersprüchlichen Bewusstsein. Als sogenannte "Flakhelfergeneration" sah sie sich schon vor dem Beginn der je "eigenen" Zeit kollektiv definiert - und musste damit kritisch umgehen lernen. Unter anderem in der Beantwortung der Frage, "Zusammenbruch" oder "Befreiung" denken zu können. Eigenes Bildungsinteresse und die Möglichkeiten nach 1945, dieses Interesse chancengleich mit anderen zu verfolgen, wiesen die Richtung: das seit 1951 aufgenommene Studium der Germanistik an der Berliner Humboldt-Universität bei Lehrern wie Alfred Kantorowicz und Gerhard Scholz schuf genauere Orientierungen. Die Perspektiven schienen klar: mit der Aneignung der marxistischen Theorie, des dialektischen und historischen Materialismus, waren die Perspektiven einer sozialistischen Gesellschaft vorgezeichnet. Sie mit aufbauen zu helfen, geriet zur persönlichen Verpflichtung und zu einem darüber hinaus verbreiteten Verständnis innerhalb einer sich schon bald selbst als Aufbaugeneration bezeichnenden jungen Generation. Die Literatur - und zumal ihre sozialistischen Traditionen - lieferten ihr in diesem Rollenbewusstsein vielfältige, nicht zuletzt moralische Belege für die Notwendigkeit, tatsächlich "von Grund auf anders" denken und handeln zu lernen. Für Dieter Schlenstedt wurde der "Reporter" Egon Erwin Kisch zu einem frühen und auch später, in Abständen, immer wieder aufgerufenen literarischen Zeugen solchen Denkens und Handelns - und damit wohl zu einer wichtigen Prüfgestalt eigener theoretischer Reflexionen. In der Differenziertheit seiner Versuche zu Kisch über mehrere Jahrzehnte sind nicht nur die je unterschiedlichen Erkenntnisinteressen an diesem Autor aufgehoben, sondern vor allem auch die Differenzerfahrungen eigenen Denkens deutlich erkennbar. "Interpretationen sind auch von den Positionen abhängig, von denen aus das Material besichtigt wird. Der Verfasser bekennt seine Standortgebundenheit", heißt es an einer Stelle; das Wissen um die Vorläufigkeit der eigenen Urteile steht solchem Bekenntnis nicht im Wege, öffnet es vielmehr in der Bereitschaft zur Selbstüberprüfung, letztlich auch zur Korrektur der Standorte: "Die Vielfalt der Bezüge eines Werks und eines Lebens zu zeigen heißt, sich mit ihnen näher einzulassen." Gewinn an Eigensinn, so lässt sich vielleicht am ehesten dieser Weg beschreiben. Mit dem eigenen Text konsequent ICH zu sagen und deshalb zunehmend in seiner Handschrift unverwechselbar zu werden, machen die von Dieter Schlenstedt in mittlerweile mehr als vier Jahrzehnten vorgelegten wissenschaftlichen Arbeiten und Essays sowohl auf den Feldern literaturtheoretischen Denkens als auch besonders in seinen Studien zur Literatur des 20. Jahrhunderts kenntlich. Ebenso wie sie die Mühen des Sich-Abarbeitens, zunehmend auch die Zeichen von Vergeblichkeit erkennbar werden lassen. Besonders sein Engagement in der Auseinandersetzung mit der DDR-Literatur ist ein Beleg für diese Erfahrung. Denn nirgendwo anders wird solcher Eigensinn (und ein solches Engagement der Nähe) von Beginn an als das Eigentliche in seinem Schreiben offenbar. Und nirgendwo wird damit von vornherein jede Vorstellung eines "bloß" theoretischen Interesses so gesprengt. Fundierung des eigenen Methodenbewusstseins, Offenheit auch gegenüber "fremdem" Denken - vielfach belegt in seinen Beiträgen etwa zur Rezeptionsästhetik - erscheinen gerade hier als Belege anhaltender theoretischer Kraftanstrengung. Sie geschah in der Überzeugung, das Unvereinbare im Widerspruch zwischen den Bildern und den Begriffen aufheben zu können. Die Bilanzerfahrung des Dichterfreundes Volker Braun aus dem Jahr 1990, zusammen gefasst im elegischen Bild jener Hoffnung, die nun "wie eine Falle" im Wege lag, berührt auch das Denken Dieter Schlenstedts zu dieser Zeit tief. Die "Verführung" zur Hoffnung, gegen die "symmetrische Welt" denken zu müssen und sie zugleich nicht überwinden zu können; in ihr zu leben für sich selbst alternativlos - und ihre Überwindung schließlich zu erleben in dem Gefühl des fatalen Bewusstseins: "Und unverständlich wird mein ganzer Text/Was ich niemals besaß wird mir entrissen./Was ich nicht lebte, werde ich ewig missen." (Volker Braun, Das Eigentum), wird zur Metapher auch des eigenen Lebens und Arbeitens bis zur existentiellen Krise. Vielleicht war es in den Jahren nach 1990 zuerst das Gefühl und die bald schon erfahrene Bestätigung, gebraucht zu werden vor allem von den Jüngeren, von den Studenten, und auf diesem Wege Erfahrungen weitergeben zu müssen, die die Bereitschaft wachsen ließ, auch für sich selbst weiter zu arbeiten an dem großen Projekt der Literatur, die ihre Texte ebenso weiter schreibt und ihre Einsichten gleichfalls in der Praxis gewinnt, die "Esserin der Utopien". Das bis zur Erschöpfung in der Krankheit reichende Engagement als Präsident des P.E.N.-Zentrums (Ost), der den Zusammenschluss der beiden deutschen P.E.N. - Zentren mit aller Entschiedenheit vorantrieb und am Ende seiner Amtszeit 1997 ihre Vereinigung endlich an herausragender Stelle miterlebte, gehört zu solchen Einsichten ebenso wie die gerade im Umfeld dieser Auseinandersetzungen entstandenen und weit über den Tagesanlass hinaus weisenden Publikationen, Reden, Essays. Hervorgehoben sei hier nur der Protokollband und die Dokumentation des 1. Deutschen Schriftstellerkongresses 1947 - des letzten Gemeinsamen für mehr als 40 Jahre - ein Lernfall im historischen Prozess. Schließlich kann auch die Ausdauer und theoretisch enorme Anforderung an den seit immerhin fünf Jahren im Status des emeritierten Lehrers nicht zur Ruhe kommenden Mitherausgeber des Wörterbuchs ästhetischer Grundbegriffe in diesem Sinne gedeutet werden. Letzter Beleg einer geradezu unendlichen Lust an der Arbeit und ihren Einsichten. Vor allem in der Anstrengung um die Klarheit der Begriffe ("...aber die Worte müssen rein bleiben", Heiner Müller, Der Horatier) führt Dieter Schlenstedts Weg seine nicht versiegende Freude am öffentlichen Disput, an der Begegnung mit Freunden - zum guten Ende und hoffentlich noch für sehr lange endlich wieder zurück. Oder besser, sie weist nach vorn auf die notwendige Strenge in der Welt der Begriffe, auch um die Verhältnisse der Welt nicht so zu lassen, wie sie sind. Salute Dieter und alles Glück für Dich!Frank Hörnigk ist Professor für Neue Deutsche Literatur - Literaturkritik und Literaturtheorie - an der Humboldt-Universität zu Berlin
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