Von Harry über Lanz bis M.I.A.: Wer steht auf der Gästeliste?
A–Z Angela Merkel hat Weggefährten wie Jürgen Klinsmann oder den Bürgerrechtler Rainer Eppelmann eingeladen, wenn sie den höchsten Verdienstorden erhält. Harry darf zu Charles‘ Krönung. Aber wie kommt man in Aberdeen in die Disco? Unser Lexikon
Wie kommt man eigentlich in Aberdeen in die Disko?
Foto: Steffen Roth/Agentur Focus
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Aufklärung Um als Katharina II. russische Zarin werden zu können, war die deutsche Prinzessin Sophie Auguste Friederike von Anhalt-Zerbst (1729 – 1796) zur orthodoxen Konfession gewechselt, regieren wollte sie aber im Geist der Aufklärung: Wenn sie d’Alembert einlud, seine Enzyklopädie in Russland fortzusetzen und den Kronprinzen zu erziehen, und Diderot, dessen Bibliothek sie bezahlte, 1773 als Gast empfing, so sicher auch, um den anderen europäischen Großmächten Russlands Öffnung zum Westen zu signalisieren. Mit Voltaire wechselte die Zarin intensiv Briefe. Auch Willy Brandt hat durch seine Umgebung Zeichen gesetzt, so als er sich, noch um das Kanzleramt kämpfend, mit sieben Mitgliedern der Schriftsteller:innen-„Gruppe 47
n der Schriftsteller:innen-„Gruppe 47“ ablichten ließ, um die Öffnung der Arbeiter:innenpartei SPD (➝ Besetzung) zu den Mittelschichten zu demonstrieren. Michael JägerBBesetzung Ich habe die Worte „Gewerkschafter“ und „Talkshow“ zusammen gegoogelt. Der Artikel, auf den ich stieß, stammt aus dem Jahr 2017: Da war ein Mitglied der Gewerkschaft der Polizei (GdP) bei Markus Lanz zu Gast, um über den „kräftezehrenden“ Einsatz beim G20-Gipfel in Hamburg zu sprechen. Seither scheint kein Arbeitnehmervertreter mehr in einer Fernsehdebatte für Wirbel gesorgt zu haben. Vielleicht, weil sie einfach verdammt selten eingeladen werden? Es gibt eine Studie namens Die Talkshow-Gesellschaft, die der Think-Tank „Das Progressive Zentrum“ erstellt hat. Darin wurden die Gästelisten der Talkshows von ARD und ZDF untersucht – insgesamt 1.208 Sendungen über einen Zeitraum von drei Jahren (2017 – 2020).Ergebnis: Nicht nur Gewerkschafter waren kaum eingeladen, auch Verbraucherschützer oder Menschen von NGOs kamen zu kurz: All jene, die in der Gesellschaft großes Vertrauen genießen (➝Aufklärung), dürfen nicht vor die Kamera. Da stimmt was nicht, liebe Öffis. Dorian BaganzCCorona Es ist fast drei Jahre her, erinnern Sie sich? Da tauchten im Rahmen des Infektionsschutzgesetzes die ersten Corona-Gästelisten auf den Tischen von Kneipen und Restaurants auf. Deren Inhaber waren verpflichtet, die persönlichen Daten ihrer Gäste zu erfassen, um Ansteckungsketten verfolgen zu können. Heute kaum mehr vorstellbar. Manchmal fuhrwerkte das Personal händisch mit seinen Bestellblocks herum, später setzten sich digitale Listen durch. Der Hotel- und Gaststättenverband war besorgt, denn schnell geriet die Datenerhebung in den Fokus der Polizei, die nur zu gerne auf diesen frischen Datenpool zugriff. Christos in unserer griechischen Stammkneipe lachte wie gewohnt, begrüßte uns geübt am Ellenbogen, nahm es aber sonst sehr genau. Waren wir irgendwo fremd, hätten wir auch Fantasienamen hinterlassen können. Eins hat mich gewundert: Nie wurden die Daten genutzt, um uns noch einmal in eine Lokalität zu locken. Und was auch nie aufgeklärt wurde: Wo ist dieser Datenschrott eigentlich geblieben? Daten sind schließlich Gold. Das Papier könnte man dann in offenen Feuern vor den Restaurants verbrennen, denn es wird bald keine Heizpilze im Freien mehr geben, die Gästeliste wäre damit in der Kreislaufverwertung. Ulrike BaureithelEEels Prinzessin und Schweinehirt wie im Märchen von Hans Christian Andersen (➝ Zwölf) oder Connell und Marianne wie im Roman Normale Menschen von Sally Rooney: Reiche Mädchen und ärmere Männer trennt ein tiefes Wasser. Oder simpler gesagt: eine Klassenschranke. Welche Tragik daraus entsteht, davon erzählt der Song Guest List, der auf dem 1996 erschienenen Debütalbum Beautiful Freak der US-amerikanischen Rockband Eels veröffentlicht wurde. Sein Text verwandelt im Verlauf des Songs den ökonomischen Graben in einen emotionalen: „Everyone needs to be somebody / Everyone needs to find someone who cares / But I don’t know if you know what I mean / ’Cause I’m never on your list“. Sänger Mark Oliver Everett, kurz „E“, intoniert mit paradox beiläufiger Inbrunst, wie schmerzhaft es für ihn war, „not on the list“ zu sein. Beate TrögerHHarry Eingeladen zur Krönung von Charles III. (➝ Leeres Ritual) und Königin Camilla sind Harry und Meghan, trotz des skandalträchtigen Interviews, trotz Harrys Autobiografie. Darin ist die Rede von einem gefühllosen Vater, Sklave von Traditionen, der Schuld der Presse am Tod der Mutter, von Stiefmutter Camilla, deren Weg mit Leichen gepflastert sei, dem jähzornigen Thronfolger William, Drogen und Peniszuständen. Die Krone schweigt dazu. Indes hat Vater Charles Harry offiziell aufgefordert, die Villa in Windsor Park zu räumen. Helena NeumannLLeeres Ritual Es ist die völlige Erosion des integren Verhaltens gegenüber sich selbst. Menschen lügen, ohne mit der Wimper zu zucken, um auf ihr zu stehen. In dem Wort „Gästeliste“ schwingen 1.000 Gefühle der in Aussicht gestellten Erhabenheit gegenüber der breiten Masse mit (➝ Eels), so dass man sich fragt, wer diesen Marketingtrick erfunden hat. Koksdealer? So sinnlos Drogen sind, so sinnlos ist auch dieses leere Ritual, das keinen Pfifferling wert ist, aber Menschen die Illusion der Relevanz geben kann – in einem Umfeld von der Beständigkeit einer Eintagsfliege. Bei König Charles III. (➝ Harry) stand beim Staatsbankett im Schloss Bellevue sogar Campino auf der Gästeliste. Oder: das Beste, was einem Frack passieren kann. Jan C. BehmannMM. I. A. Es gab Anfang der nuller Jahre in Mitte einen Club und eine Frau, die irgendwoher kam und irgendwohin ging. Wir müssen uns gekannt haben, sie lotste mich um die kilometerlange Warteschlange, drinnen würden Protagonisten einer längst verwehten Musikgattung aus England auftreten. Wir standen auf keiner Liste. Die Frau senkte kurz ihre Sonnenbrille, wir wurden hineingelotst, als warteten alle schon auf uns. Drinnen war es gesteckt voll, Barkeeper kamen uns lächelnd entgegen. Als ich Scheine aus Hosentaschen zog, wehrten sie ab. Für Menschen, die Berlin nicht kennen: Das ist so wahrscheinlich wie ein Tag mit Lotto-Sechser und Meisterschaft von Union. Der Abend ging weiter, die Frau war längst weg, Barkeeper sprangen, wenn ich nur Richtung Tresen blinzelte. Irgendwer beugte sich zu mir (gewiss nicht aus Berlin, hier fragen nur Zugereiste): Deine Freundin, ist das M. I. A.? Ich vermutete nicht, dass die Londoner Hip-Hopperin insgeheim im Taunus aufgewachsen war, schwieg also lieber. Lennart LaberenzNNetzwerke „Du musst netzwerken!“, so der Karrieretipp seit Generation Y. Das ist analog wie digital gemeint und kann ungeahntes Potenzial bergen, wie der Fall Carola Martin zeigt. Sie schmiss die heißesten Partys. Netzwerken war ihr zweiter Vorname, und sie wusste um die dunklen Geheimnisse ihrer Gäste. Wer ihr querkam, dem vermieste sie die Tour durch Gerüchte in den sozialen Medien. Wurde sie deshalb Teil eines Mordkomplotts? Dies ist nur Fiktion, nachzulesen im Psychothriller Die Gästeliste von Sonja Rüther. Vor zehn Jahren sorgten sogenannte Facebook-Partys für echte Furore. Beim Einladen von Gästen vergaßen Nutzer, das Häkchen bei der Einstellung „privat“ zu setzen. Ihre Geburtstagsfeier wurde öffentlich. Zu „Thessa’s Birthday“ kamen dann 1.600 Leute zum Feiern nach Hamburg, bis die Polizei ausrückte und elf Menschen festnahm. 4.000 Randalierer besuchten eine ungewollt öffentliche Geburtstagsfeier im niederländischen Haren – richteten mit Plünderungen und Brandstiftung einen Millionenschaden an. Tobias PrüwerSStress Die Wohnung ist thematisch dekoriert, das T-Shirt gestaltet, und die selbst gebastelte Schultüte voll mit nützlichen und süßen Sachen liegt bereit. Nun kann eigentlich nichts mehr schiefgehen, wenn für das Kind beginnt, was man früher den „Ernst des Lebens“ genannt hat. Doch die schwierigste Aufgabe steht noch bevor. Wer darf mit zur Einschulung? Und wen lädt man zur anschließenden Feier ein? Eltern, Paten, Großeltern? Das wären schon mindestens sieben. Aber was ist mit dem leiblichen Vater des frischgebackenen Schulkindes und mit seiner neuen Partnerin? Nicht nur in Patchwork-Familien kann die Organisation dieses Tages sehr anstrengend sein. Und teuer. Geht man von der Schule ins Restaurant oder feiert man zu Hause? Einschlägige Internetseiten schlagen bei einer großen Anzahl von Gästen die Anmietung eines Pfarrsaals oder Mehrzweckraums vor. Denn üblicherweise würden auch noch Cousins und Cousinen, Onkel und Tanten sowie bereits eingeschulte Freunde des Kindes eingeladen.Da staunen die Großeltern, deren erster Schultag in den 1960er Jahren unspektakulär ganz ohne Festlichkeiten und Verwandtenbesuch vonstattenging. Niemand hätte dafür einen Urlaubstag geopfert. So begleiteten die nicht berufstätigen Mütter den Nachwuchs zur Schule, es gab eine bunte Tüte mit Naschwerk und manchmal auch schon den ersten Unterricht. Schwarz-weiße Gruppenfotos von verstört dreinblickenden Sechsjährigen belegen das. Joachim FeldmannTTurnschuhe Manchmal hört man von Türstehern: Heute nur Gästeliste. Und: Du stehst nicht drauf. Das Reinkommen in den Club (➝ M. I. A.) kann aber an vielerlei scheitern. Etwa am Dresscode, Gästeliste hin oder her. So durfte ich einmal bei meinem Studienaufenthalt in Aberdeen als einziger meiner Freunde in die Disco. Denn ich trug nicht wie sie Turn-, sondern Lederschuhe. Mit jenen stahlkappenbewehrten Dr.-Martens-Stiefeln war ich bis dahin regelmäßig an deutschen Clubtüren abgeblitzt, vielleicht waren das aber auch einfach nur die falschen Partys gewesen.Auch bei exklusiven Veranstaltungen, wo man nur reindarf, wenn man auf der Gästeliste steht, sind die Organisatoren bei der ➝ Besetzung sehr bemüht, den Männerüberschuss nicht allzu groß werden zu lassen – und achten penibel auf die richtige Publikumsmischung. Ich bin dann übrigens auch ohne Turnschuhe nicht in den Aberdeener Club gegangen – was sollte ich dort, so ganz ohne meine Freunde? Tobias PrüwerZZwölf Hätte es mehr goldene Teller in Dornröschens Schloss gegeben, wäre alles glattgelaufen: Keine vergiftete Spindel, kein 100-jähriger Schlaf – und auch Jacob Grimms berühmtes Märchen hätte es nicht gegeben. Dessen Urfassung stammt von 1810 und geht auf einen Text von Charles Perrault (1628 – 1703) zurück. Indes, wie heutig ist die Konstellation: So wie das Geschirr bei Hofe nur für zwölf Feen reichte, sind die Plätze im Konkurrenztheater der Prominenz begrenzt. Keine Einladung zum Staatsempfang, kein Kabinettsmitglied zu Merkels Zeremonie im Schloss Bellevue, geschweige denn CDU-Chef Merz – oder zur Talkshow – dazu die Furcht, nun nicht mehr „drin“, sondern „draußen“ zu sein. Wer vom hohen Ross der Selbstüberschätzung stürzt, mag fluchen. Irmtraud Gutschke
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